Pflegeexpertin Imane Henni Rached: verstehende Diagnostik bei Demenz

Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz können für die sorgende Umgebung schwer zu nehmen sein. Zusammenfassend spricht man von „herausforderndem Verhalten“, wenn Betroffene z.B. große Unruhe zeigen, der Kontakt von Gereiztheit geprägt ist oder es gar zu selbstgefährdenden Verhaltensweisen wie sogenannten Hinlauftendenzen kommt. 

Medikamente als Krücken

In der Praxis wird dem Verhalten von Menschen mit Demenz häufig mit Medikamenten begegnet, die darauf zielen die „Störung“ die Betroffene mit ihrem Tun verursachen zu begrenzen oder abzustellen. Menschen mit Demenz erhalten überdurchschnittlich häufig und lange sogenannte Psychopharmaka – auch, weil die Versorgung nicht durch ausreichend kompetentes Personal sichergestellt ist.

Krankenhäuser im Wandel der Demenz

Krankenhäuser haben ein Sonderproblem, welche die Demographie in Deutschland mit sich bringt: mehr alte Menschen bedeutet auch mehr alte Patienten mit Demenz. Seit Jahren nehmen die entsprechenden Zahlen zu. Doch nur wenige Krankenhäuser sind auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ausreichend vorbereitet. Das hat den Effekt, dass Klinikaufenthalte für Betroffene risikoreich sind. Überdurchschnittlich oft erleiden sie delirante Zustände, haben ein erhöhtes Risiko nosokomialer Infektionen, das Mortalitätsrisiko ist für sie erhöht und häufig geht es für sie nicht mehr zurück nach Hause, sondern ins Pflegeheim.

„Die Herausforderung liegt vor allem daran, dass oftmals von vielen Seiten die Erwartungshaltung besteht, den Menschen mit Demenz und seinen Verhaltensweisen medikamentös „einzustellen“.

Pflegeexpertin Imane Henni Rached

Der Personalmangel ist vor allen Dingen auch ein Zeitmangel – und Zeit ist es, was Patienten mit Demenz häufig in besonderem Maße erfordern, will man sie angemessen versorgen, behandeln, therapieren und auch betreuen. Ein weiteres Problem ist die Missinterpretation sogenannten herausfordernden Verhaltens. Allzu schnell wird jedes Problem, jede Äußerung und jede absonderliche Verhaltensweise schlicht „der Demenz“ zugeschrieben. Die dahinterstehenden Bedürfnisse werden nicht erkannt oder ignoriert, so dass unter Umständen lediglich reaktive Maßnahmen wie Medikamente zur Dämpfung zum Einsatz kommen.

Andere Wege gehen: verstehende Diagnostik

Im Haus Alsenztal der Rheinhessen-Fachklinik Alzey geht man einen anderen Weg. Imane Henni Rached ist Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) und Altenpflegerin und kann das erläutern:

Jochen Gust: Frau Henni Rached, können Sie auf eine Kurzformel bringen, was die wesentliche Verbesserung der verstehenden Diagnostik im Krankenhaus ist und welche Effekte sie hat?

Imane Henni Rached: Die wesentliche Verbesserung der „verstehenden Diagnostik“ ist, dass wir im multiprofessionellen Team versuchen die Verhaltensweisen des Menschen mit Demenz zu verstehen. Dies geschieht dadurch, dass wir die Perspektive der Betroffenen einnehmen und uns fragen: „Warum verhält sich dieser Mensch in der bestimmten Art und Weise? Was ist sein Bedürfnis?“ Das ist manchmal eine richtige Detektivarbeit – im Endeffekt geht es immer um Versuch und Irrtum, besonders wenn PatientInnen ihre Bedürfnisse nicht mehr artikulieren können. Die Effekte sind ehrlicherweise ganz unterschiedlich, nicht immer lässt sich das Bedürfnis ausfindig machen. Letztendlich hat es einen großen Nutzen für die Betroffenen, wenn auf z.B. Grundbedürfnisse eingegangen werden kann. Wenn jemand motorisch unruhig ist, weil er oder sie zur Toilette muss, dann nützt ein Beruhigungsmittel leider nichts.

Jochen Gust: Nun sind die Vorgehensweisen – Verhaltensweisen und Äußerungen von Menschen mit Demenz im individuellen Kontext zu betrachten –  nicht grundsätzlich neu, in der speziellen Pflege von Menschen mit Demenz teilweise seit vielen Jahren etabliert. Sie in einem Krankenhaus zum Standard zu machen, nochmal eine ganz andere Herausforderung – oder?

Imane Henni Rached: Das stimmt. Die Herausforderung liegt vor allem daran, dass oftmals von vielen Seiten die Erwartungshaltung besteht, den Menschen mit Demenz und seinen Verhaltensweisen medikamentös „einzustellen“. Wir bieten ein umfangreiches Schulungsprogramm für die MitarbeiterInnen an, haben unterschiedlichste psychosoziale Interventionen etabliert, haben auch durch Fallbesprechungen und Umsetzung von Dementia Care Mapping das Verhalten und vor allem die Reaktion von MmD auf Handlungen der MitarbeiterInnen näher unter die Lupe genommen und reflektiert. Trotz allem bleibt es ein immerwährender Prozess, die Mindset-Änderung geschieht nicht über Nacht und am Ende muss unsere Haltung und Behandlung von herausfordernden Verhaltensweisen auch in die Gesellschaft getragen und von dieser getragen werden. Es muss verstanden werden, dass Psychopharmaka nur das vermeintlich leichtere Mittel der Wahl sind, da Evidenzen gering und die Folgen für PatientInnen sehr hoch sind. Dazu stehe ich auch im Kontakt mit den Pflegeheimen und Angehörigen und lade zu meiner Pflegeexperten-Sprechstunde ein.

Jochen Gust: Um den Gründen für Verhaltensweisen, insbesondere bei der im Verlauf stark eingeschränkten verbalen Kommunikationsfähigkeit Betroffener, auf die Spur zu kommen, ist manchmal ein regelrechtes detektivisches Wissenwollen erforderlich. Nachforschen, ausprobieren, Fehler machen, erneut ausprobieren – wie kommt es, dass man sich bei der Rheinhessen-Fachklinik Alzey die Zeit dafür nimmt – obwohl es doch so sehr an Zeit mangelt überall im Gesundheitswesen?

Imane Henni Rached: Unser NeeDz-Projekt, indem es um die Verstehende Diagnostik herausfordernden Verhaltens von Menschen mit Demenz in die Gerontopsychiatrie geht, wurde für 2 Jahre gefördert vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung. Dadurch war es möglich meine Stelle als Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) zu schaffen, aber auch auf Station Voraussetzungen zu schaffen nicht-medikamentöse/psychosoziale Maßnahmen zu etablieren. Wir haben zum Beispiel einen Therapieraum geschaffen, indem es überhaupt möglich ist z.B. einen Menschen mit Demenz und psychomotorischer Unruhe in einer ruhigeren Umgebung mit beispielsweise beruhigender Musik und Aromatherapie zur Ruhe zu bringen. Das sind auch für die Pflegepersonen ganz andere Voraussetzungen mal eine pflege-therapeutische Intervention zu gestalten. Es war aber vor allem sehr wichtig, dass die MitarbeiterInnen verstehen, wie wichtig es ist, die Ursache für das Verhalten herauszufinden, oder zumindest alle Faktoren durchzugehen, um nichts zu übersehen. Häufig finden wir Infekte oder Schmerzen, die hinter den herausfordernden Verhaltensweisen stehen, oftmals sind es aber auch banale Dinge wir das Bedürfnis nach Wertschätzung, Anerkennung, Sinn und Beschäftigung. Ich denke dieser Ansatz ist einfach nur menschenwürdig, dass auf Bedürfnisse eingegangen wird und nicht mit Psychopharmaka sediert wird. Nichts anderes als das haben unsere alten Menschen verdient. Es bleibt aber auch bei uns stets eine Herausforderung, denn der Fachkräftemangel in der Pflege geht auch an uns nicht vorbei – doch wir bleiben dran!

Jochen Gust: Die Etablierung der verstehenden Diagnostik war sicher ein Prozess, der ebenfalls mit einigem Aufwand verbunden war. Als Demenzbeauftragter im Krankenhaus habe ich selbst erlebt, wie viele Widerstände zu überwinden sind, wie mühsam es sein kann Veränderungen in Abläufen und Strukturen herbeizuführen. Wie haben Sie das erlebt und haben Sie abschließend einen guten Rat oder einen Tipp für Pflegefachleute, die in ihrem Krankenhaus ebenfalls Veränderungen für Patienten mit Demenz herbeiführen wollen?

Imane Henni Rached: Widerstände zu überwinden ist nicht immer leicht, im Endeffekt braucht man einen langen Atem und Durchhaltevermögen. Doch wenn man selbst für eine Sache von Grund auf „brennt“ kann man meistens auch Andere begeistern. Ich würde mal behaupten, dass ein Großteil der Pflegepersonen in den Pflegeberuf gegangen ist, weil er oder sie Menschen helfen möchte und eine bestmögliche Patientenversorgung gewährleisten möchte. Die Bedingungen des Alltags, der Personalmangel, die politischen Finanzierungsgrundlagen, all das erschwert uns die tägliche Arbeit. Doch es bringt auch nichts auf nicht-funktionierende alte Strukturen zu beharren und „den Kopf in den Sand zu stecken“. Wenn man Veränderungen hervorbringen möchte muss man ins Tun kommen, die Wege dazu können ganz unterschiedlich sein, pflegepolitisch, beratend gegenüber KollegInnen und Angehörigen oder im 1:1-Kontakt am Patienten. Was gut tut ist Netzwerkarbeit, auch über Sektorengrenzen hinweg, Vernetzungen mit denjenigen, die auch für eine gute Patientenversorgung kämpfen, das baut Vorurteile ab und stärkt!

Jochen Gust

Fotos: v. Imane Henni Rached; Portrait und das Haus Alsenztal

Titelbild: iStock ID:587941910

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