Sensorische Deprivation bei Menschen mit Demenz kann besonders herausfordernd sein, da kognitive Fähigkeiten und sensorischen Funktionen ohnehin beeinträchtigt werden. Deprivation (lat. „Beraubung“) ist der Zustand der Reizverarmung. Er wird in sensorische und emotionale oder soziale Deprivation eingeteilt.
Emotionale Deprivation kann vereinfacht als ein Mangel an Zuwendung / Kontakt verstanden werden, während mit sensorischer Deprivation fehlende Sinnesreize /-erfahrungen gemeint sind. Manchmal wird auch noch von psychischem Hospitalismus gesprochen im Zusammenhang. Besonders alleinlebende und sehr zurückgezogene Menschen mit Demenz sind gefährdet, ebenso wie Bewohner von Langzeitpflegeeinrichtungen oder auch Patienten mit Demenz im Krankenhaus: durch zu wenig Reize stehen sie in einem hohen Risiko, ein Deprivationssyndrom zu erleiden. Bereits das fortgeschrittene Lebensalter des Großteils der Menschen mit Demenz schränkt häufig die Sinnesleistungen ein – kommt eine Demenz hinzu und ziehen sich Betroffene zurück oder werden über weite Strecken des Tages sich selbst überlassen, wird es bald gefährlich.
Deprivation hat schwere Folgen
Die Folgen mangelnder Reize und Stimuli können stark variieren. Vielen Angehörigen wie auch Pflegefachleuten fällt besonders auf, wie stark oder schnell Betroffene „plötzlich abbauen“. Nicht selten tritt der Zustand auch im Zusammenhang mit einer anderen Erkrankung auf: zwingt ein Infekt den Menschen mit Demenz z.B. über Tage ins Bett, steigt das Risiko eines Reizmangelzustandes nochmals enorm an. Neben apathischen Zuständen, weiterem oder sich verstärkendem Rückzug und auch Desorientierung, verschlechtern sich Stimmungslage und Lebensqualität erheblich. Ausdruck findet ein Reizmangelzustand nicht ausschließlich, aber typischer Weise auch im Verhalten. Das heißt, betroffene Menschen mit Demenz zeigen Ihre Not, den Mangel, häufig deutlich.
Keine Zeit: sensorische Deprivation „übersehen“
Auch wenn sensorische Deprivation als Therapiemittel über eine kurze Dauer als wohltuend erlebt werden kann: über einen längeren Zeitraum ist sie schädlich und gefährlich. Nicht umsonst wird Isolation in Kombination mit Reizabschirmung auch als Straf- und Folterinstrument eingesetzt (Isolationshaft).
Im Versorgungsalltag ist der Mangel an Mitarbeitenden an sich bereits ein Risikofaktor für Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Wenig menschliche Kontakte die überdies unter hohem Zeitdruck „Maßnahmen“ durch- oder Anordnungen ausführen, keine Aufgaben für die Betroffenen, wenig Betreuung im Sinne von Gemeinschaft oder auch Erlebnissen, Zuhause ein zurückgefahrener Alltag durch Überbehütung („Bleib einfach da sitzen.“).
Sensorische Deprivation kann zudem auch bequem sein. Ein zurückgezogener Mensch, apathisch, abgeschottet, „von schnellem Abbau betroffen“, stört Abläufe weniger, ist weniger anstrengend zu beaufsichtigen, macht „keinen Ärger“ – weil er eben nichts mehr macht. Das kann für überforderte Angehörige rettend sein, für eine mangelhaft vorhandene Pflege und Betreuung die Abläufe stabilisieren. Der Zustand wird dann der Demenz zugeschrieben, als sei er automatische Folge. Äußert er sich durch Nesteln, Rufen, Schreien, Halluzinationen, wird „die demenzbedingte Unruhe“ medikamentös bekämpft…. .
Prävention braucht Zeit und Kenntnis
Festzuhalten ist, dass ein Reizmangelzustand zu vermeiden ist – genauso wie Überforderung. Um das Risiko einer möglichen Deprivation einzuschätzen braucht es dafür kompetentes Gesundheitspersonal mit der nötigen Zeit. Prinzipiell sind es zwei Strategien, die hierfür individuell auf die im Risiko stehende Person zugeschnitten werden müssen:
- Fördern und ermöglichen von sozialen Kontakten und den damit verbundenen Emotionen
- Vermeiden von reizarmer, stereotyper Umgebung und Tagesgestaltung, fördern und ermöglichen der Wahrnehmung von Sinneseindrücken und Stimuli und ggfs. Unterstützung bei deren Einordnung.
Für Demenzbeauftragte im Krankenhaus und Gesundheitsfachleute allgemein sind die Punkte der Biografie-/Gewohnheitenerhebung, Check der Sinnesorgane auf Funktion / Leistungsniveau und Vorlieben des Patienten, sowie Tages- und Lebensraumgestaltung (Bettumgebung!) und kontrollierte Reizsetzung die entscheidenden Punkte.
Die Formen bzw. das angemessene Vorgehen ist dabei stark kontextabhängig. Die richtige Balance zu finden zwischen Unter- und Überforderung kann dabei mutige Schritte im Modus des Versuch- und Irrtum erfordern. Nicht nur Demenzbeauftragte im Krankenhaus sollten diesen Mut aufbringen – alle an der Versorgung von Menschen mit Demenz Beteiligten sollten eine systematisches Vorgehen hinsichtlich der Vermeidung von sensorischer Deprivation einfordern und in ihren Einrichtungen und Diensten fördern sowie pflegende Angehörige auf die Gefahren hinweisen, die Reizmangelzustände mit sich bringen.
Hallo und vielen Dank für diesen Artikel: reizlos unglücklich – an allen Ecken taucht dieses Thema gerade auf.
Pflege – ob zu Hause oder in der Einrichtung – seit Jahren am Limit und der Ruf nach Medikamenten und geschlossener Unterbringung wird immer größer…in Schulungen erlebe ich einen Großteil des Pflege- und Betreuungspersonals resigniert. Nicht mehr aufnahmefähig und einige wenige kämpfen gegen Windmühlen und erschöfen sich in diesem Versuch.
Ich glaube es braucht gar nicht soviel, um was zu ändern, wir (alle) müssen an sich, die Dinge die wir ohnehin tun mit einer anderen Haltung tun, denn ich kann jemanden das Frühstück hinstellen oder ich kann das Frühstück hinstellen UND dabei einen Kontakt machen. Wir sollten „präventiv“ in den Kontakt gehen, validieren – schlicht ein Gespräch führen und nicht nur Handlungen verrichten. Nicht erst validieren als Maßnahme, wenn die Person schon ein „besonderes“ Verhalten zeigt. GELEBTE Biografiearbeit im „Stehenbleiben“…
Man merkt es: ein Thema, das mich umtreibt….
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Der Fachkräftemangel und die Erschöpfung jener, die aktiv an der Versorgung beteiligt sind, spielen sicher eine große Rolle. Wie Sie richtig schreiben (Essen), gehen viele Verbesserungen und Prävention mit eigentlich „kleinen“ (im Sinne von Zeitaufwand) Änderungen einher. Für mich ist ein großes Problem, dass häufig Kausalketten nicht gesehen / untersucht / beachtet werden. Vielmehr wird jegliches Geschehen „der Demenz“ zugeschrieben, welches wahlweise erduldet und erlitten werden muss, oder den Ärzten mit dem Auftrag „die Störung“ zu beseitigen, übergeben wird. Fachkräftemangel ist eine Ursache dafür – zur Ausrede im persönlichen Tun darf er aber nicht werden.