„Na Oma, willst` was vor die Büx haben?“

Anfang der 2000er Jahre saß ich in einem Cafe zusammen mit einem älteren Herrn mit Alzheimerkrankheit. Wir saßen draußen, es war sehr voll. Eine Frau um die 40 stieg von ihrem Fahrrad und lehnte es an den Zaun in unserer Nähe, der den Außenbereich des Cafes abgrenzte.

Der demente alte Herr mit dem ich da war sah sie und rief laut: „Na Oma, willst` was vor die Büx haben?“. Wie hätten Sie reagiert in der Situation? Wie hätten Sie sich gefühlt?

Keinem Betroffenen muss es peinlich sein, eine Demenz zu haben. Ebensowenig wie es peinlich ist Arthritis, Migräne oder eine Herzschwäche zu haben. Die Auswirkungen verschiedener Erkrankungen sind aber nun einmal höchst unterschiedlich. Manche bemerkt man auch als unbeteiligter Dritter, manche nicht.

Demenz als Stigma – weil Menschen nichts darüber wissen oder Demenz mit Vergesslichkeit gleichsetzen: das ging und geht meiner Beobachtung nach in den vergangenen 20 Jahren zurück. Die Kampagnen, die Lobbyarbeit von Verbänden und Einzelpersonen haben sich gelohnt. Das heißt nicht, dass es nicht einen Teil von Menschen gibt die nicht erreicht wurden und werden – aber der größere Teil der Bevölkerung kann zumindest mit dem Begriff Demenz etwas (mehr) anfangen, als früher.

In diesem Artikel kann und soll es selbstverständlich nicht darum gehen, wie sich ein Mensch mit Demenz fühlen „darf“ mit seiner Demenz, zumal niemand stets das gleiche fühlt. Für viele Situationen ist aber entscheidend, was wir als Dritte daraus machen. MitarbeiterInnen von Krankenhäusern, Pflege- und Betreuungsdiensten und Pflegeeinrichtungen haben manchmal durchaus die Neigung, unangenehme Situationen noch schlimmer zu machen.

Szenenwechsel ins Krankenhaus: der alte Herr sitzt in der gut gefüllten Cafeteria des Klinikums. Eine Mitarbeiterin der Pflege kommt angefegt. Offenbar ist er dement und die Kollegin erklärt ihm, dass er seine Station nicht verlassen dürfe und fordert ihn auf, mit ihm zu kommen. Er schaut sie verständnislos an, sagt etwas wie: „Ich möchte hier einen Kaffee trinken.“. Die Mitarbeiterin beugt isch leicht zu ihm herab und wird dann sehr laut, so dass die Umsitzenden inklusive mir die Szene gut mitverfolgen können: „Sie dürfen hier nicht sitzen! SIE HABEN ALZHEIMER ODER SO! Deshalb vergessen Sie das immer wieder! KOMMEN SIE JETZT MIT MIR!“.

Es half nichts – der Herr schien mir jetzt ernsthaft verärgert und er weigerte sich aufzustehen. Schließlich wusste sich die Kollegin nicht anders zu helfen, als per Telefon um Hilfe zu rufen. Als Verstärkung da war, packten sie gemeinsam den alten Mann unter den Armen und zogen ihn auf die Füße. Unter lautem Geschrei schafften Sie es, ihn aus der Cafeteria wegzubringen.

Wenn ich als Referent oder Berater irgendwo bin, bin ich oft früher oder zu anderen Zeitpunkten da, als eigentlich bestellt. Genau für solche Szenen. Solche Erlebnisse sagen mir eine Menge darüber, was hier zu tun ist. Vielfach haben hervorragende Leute ihr ganz revolutionäres neues Demenzkonzept im Gepäck, dass sie vorstellen wollen und können. Das ist prima, liefert neue Aspekte und Ansätze. Entscheidend ist aber, egal wo man mit Menschen mit Demenz zu tun hat und völlig unabhängig von der beruflichen Funktion: können Sie Alltag mit Menschen mit Demenz? Leider wird „Alltag“ weniger trainiert (und es braucht Training!), als immer wieder neue Dinge in Sachen Demenz vorzustellen. Etwas soll aufgesetzt werden, obwohl die Basis, einfache Reflexe und Mechanismen im Alltag (noch) gar nicht richtig funktionieren. Schlimmstenfalls wissen die Teilnehmer einer Schulung anschließend, was sie bisher alles falsch gemacht haben – und sind für ihren Arbeitsalltag keinen Schritt weiter.

Ausführlich habe ich das Thema peinliche Situationen und wie wir sie meistern können, kürzlich in der Ausgabe 09/2023 von Demenz Pflege und Betreuung behandelt.

Prinzipiell bleiben im Pflege- und Betreuungsalltag mit Menschen mit fortgeschrittener Demenz 3 Auswege:

1. Weitermachen, die Situation überspielen – empfiehlt sich insbesondere dann, wenn nicht zwingend ein Zugriff nötig ist, wenn also weder die Würde von jemandem geschützt, noch er anderweitig vor Schaden bewahrt werden muss.  

2. Ablenken: notwendig, wenn der Betroffene die unangenehme / peinliche Situation sozusagen fortsetzt, zu verschlimmern droht. Ist auch die beste Methode für und bei Menschen, die sich nicht leicht von „Autoritäten“ etwas sagen lassen.

3. Humor. Manchmal besteht die Möglichkeit, eine peinliche Situation in eine – gerade für die Betroffenen – humorvolle, lustige Situation zu verwandeln. Mit dem richtigen (nicht ironischem oder herablassenden) Spruch oder einer Handlung, wird die Szene schlagartig entschärft. Pflege- und Betreuungskräfte können Fehlhandlungen von Menschen mit Demenz z.B. mit eigenen „Slapstick-Einlagen“ in völlig neue Situationen verwandeln, die für alle einen leichten Ausweg bieten.

Natürlich erfordert all dies eine Haltung auch gegenüber Menschen mit Demenz, die von Wertschätzung geprägt ist. Es gehört aber noch mehr dazu – z.B. ein Bewusstsein dafür, welch enormen Einfluss ich als Pflegeperson darauf haben, wie die Situation schließlich ausgeht. Wie unglaublich mächtig ich so gesehen bin. Und, hier gilt eben auch Spiderman: aus großer Kraft (Macht), folgt große Verantwortung.

In Einrichtungen und Diensten des Gesundheitswesens sollten wir viel Wert darauf legen, Alltagssituationen zu trainieren. Immer wieder. Denn da entscheidet sich eine gute, angemessene Versorgung und da zeigt sich, ob Bewusstsein und Handlungskompetenz in Sachen Demenz wirklich gelebt und umgesetzt sind, oder lediglich auf Powerpointfolien an der Wand gelandet.

Jochen Gust

PS: Sogenannte Verständniskärtchen, wie sie z.B. bei der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e.V. erhältlich sind, können ebenfalls in schwierigen Situationen weiterhelfen.

Fotos:
Titelbild: imustbedead on pexels; Foto der Frau im Text: Andrea Piacquadio on pexels

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