Gerontologe und Rechtswissenschaftler Prof. Dr. habil. Thomas Klie hat sein neues Buch *„Pflegenotstand?: Eine Streitschrift“ betitelt. Im Vorwort zieht er unter anderem eine Parallele zwischen Pflegenotstand und Klimawandel. Als Gesellschaft wissen wir um die Probleme die damit auf uns zukommen oder bereits manifest sind, bleiben jedoch häufig zu passiv. Wir machen uns Sorgen, hoffen aber, dass es irgendwie schon alles klappen wird.
DEN Pflegenotstand gibt es nicht
Der Autor zeigt ab S. 13 zunächst, dass es nicht den einen Pflegenotstand gibt, sondern verschiedene Varianten davon und reißt an, wie diese zustande gekommen sind. Pflegenotstände haben viele Gesichter – die sich auch gewandelt haben. Denn selbst wenn ausreichend Geld zur Finanzierung von Pflegefachleuten – z.B. in Kliniken – zur Verfügung steht ist deutlich: man kann nicht kaufen, was es nicht gibt. Heißt: trotz Geld – es fehlen Pflegefachleute. Jemanden einstellen, den es nicht gibt kann auch der beste Personaler nicht und auch keine gut gemachte SocialMedia-Kampagne zaubert Fachleute herbei, die nicht da sind.
Auch dem Thema der Pflege durch Angehörige widmet er sich und warnt im Buch vor „Lobhudelei“ selbiger. Denn häufig wird vergessen, dass hinter dem „größten Pflegedienst der Nation“ auch prekäre, traurige und mitunter gefährliche Situationen und Schicksale völlig überforderter Angehöriger stehen. Klie nennt das den „heimlichen Pflegenotstand“.
Wie das möglicherweise gelöst – oder zumindest Verbesserungen erzielt werden, hat natürlich auch mit der Finanzierung dieser Pflege zu tun, worauf der Autor auch eingeht und deutlich macht, dass es da oft am politischen Willen fehlt, wirklich etwas zu verändern.
Pflegefachleute braucht es in jeder Pflegekonstellation – aber nicht für jeden Handschlag
Die Zeit von den ohnehin zunehmend rarer gesäten Pflegefachleuten wird zu oft verschwendet mit Dingen, die geringer qualifizierte Menschen übernehmen können. Begleitet, beraten, organisiert und auch kontrolliert von Pflegefachleuten, kann eine bessere Versorgung mit mehr Geringerqualifizierten gelingen. Zumindest aufrechterhalten. Muss es sogar – es wird gar nicht anders gehen – ist bloße Mathematik. Möglicherweise sind Personalbedarfsregulierungen dafür entscheidende Schritte die bereits gegangen werden, ebenso wie die Vereinheitlichung der Ausbildung von Hilfs- und Assistenzberufen.
Klie schreibt im *Buch (S. 39): „Ein Gutteil der Sorge- und Unterstutzungsaufgaben verlangt zwar fachliche Begleitung und Beratung, aber nicht in jedem Fall den Einsatz von Professionellen. Dies wäre auch in keiner Weise darstellbar.“.
Money money money – Pflege als Geschäft
Das fünfte Kapitel seiner Streitschrift widmet Klie dem Wirtschaftsfaktor Pflege. Als Aufgabe der Daseinvorsorge sieht er die Kommunen in der Pflicht und erklärt dies auch anhand von Beispielen. Auch hier zeigt er Fehlentwicklungen und Fehlsteuerungen auf. Gesundheit als nichthandelbares Gut im Sinne pflegerischer (und ärztlicher) Ethik, aber auch aufgrund ihrer Wertebasis einer Gesellschaft machen diese Tätigkeiten schlecht – oder unvergleichbar mit anderen Wirtschaftsbereichen, wie Klie im Kapitel ausführt. Die verschiedenen Aspekte – und Dilemmata die das verursacht, zeigt der Autor gekonnt auf.
Fazit: eine lesenswerte Streitschrift für Pflegefachleute?
Kapitelübersicht
1 Vorwort | Schicksalsfrage Pflege
2 Pflegenotstände – ein Dauerthema in verschiedenen Variationen und Kontexten
3 »Familienpflege«
4 Deutschland – eine pflegeerfahrene Nation
5 Pflege als Geschäft
6 Heime zwischen Versorgungs- und Abschreckungsfunktion
7 Die häusliche Pflege – das Rückgrat der gesundheitlichen Versorgung
8 24-Stunden-Betreuung: Die Live-Ins als eigener
Versorgungssektor
9 Professionalisierung und Pflegepersonalbedarf
in der Pflege
10 Zwischenfazit: Pflegemythen
11 Solidarische Sorge und professionelle
Pflege – neue Mixturen der Vergesellschaftung von Pflegeaufgaben
12 Umgang mit und Wege aus den »Pflegenotständen«
13 Ausblick | Zeitenwende in der Pflege?
Diese Buchvorstellung ist bereits zu lang geraten. Mich jedenfalls hat Klie „gekriegt“. Aber was wäre ein solches Buch, eine Streitschrift, die sich lediglich darauf verlegt die schwierigen, besorgniserregenden Zustände zu beschreiben und einer, wenn auch trefflich aufbereiteten Analyse zu unterziehen? Zu wenig, denn lediglich auf Missstände und Probleme hinzuweisen – das geschieht seit Jahrzehnten und ist bis heute auch „Geschäftsgrundlage“ einiger Personen der Szene. Immer und immer wieder lautstark auf die sattsam bekannten Probleme hinweisen und das Schlagwortbingo der Deprofessionalisierung spielen: aber nie einen einzigen (durchdachten) Vorschlag zur Lösung beizutragen – mich jedenfalls langweilt man damit ziemlich zügig.
Und genau deshalb lohnt es sich für Pflegefachleute, die Streitschrift zu lesen. Anders als viele andere ist es nicht nur eine Beschreibung der Probleme mit der platten Forderung nach mehr Geld für irgendwen und irgendwas. Klie entwirft auch. Spätestens ab S. 155 die er treffend damit beginnt, dass es eben nicht den einen Weg raus aus dem Pflegenotstand geben kann und wird, wird es auch für Pflegeprofis nochmal interessant. Dann wird nochmal deutlich, was es nach Meinung des Autors braucht, um rauszukommen aus der Misere. Es fehlt auch nicht an Beispielen, nicht am Wissen – an der Einigkeit und am Tun. Und an einer gesellschaftlichen Haltung, die eine gute Pflege formt, die der Gegenwart und Zukunft gewachsen sein kann.
Ich empfehle die Lektüre all jenen, die noch Zeit und Energie haben sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Ja, es sind durchaus Sätze enthalten, die sehr „rechtswissenschaftlich formuliert“ sind – um nicht zu sagen eckig, gestelzt, den Lesefluss nicht leichter machend. Für mein Empfinden waren sie aber selten – und allen Kolleginnen und Kollegen die ganz und gar nicht bereit sind Pflege fatalistisch zu betrachten, sei die Streitschrift wirklich empfohlen. Als Pflegefachperson sollte man sie gelesen haben.
Jochen Gust
In dieser Buchvorstellung: Pflegenotstand?: Eine Streitschrift von Prof. Dr. Thomas Klie, erschienen bei Hirzel (06 / 2024); 24,00 Euro. Weitere Buchvorstellungen finden Sie hier.
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