Mancherorts bedeutet Pflege vor allen Dingen Zeitdruck. Dadurch entsteht Stress für alle Beteiligten und Fehler können provoziert werden. Zeitdruck im Umgang mit Menschen mit Demenz birgt außerdem die Gefahr, dass ihm Dinge abgenommen werden, die er eigentlich mit Unterstützung noch selbst tun kann. Nach und nach trägt dies zum Fähigkeitsverlust bei. So kann es geschehen, dass Menschen mit Demenz regelrecht in die (vorzeitige) Unselbständigkeit gepflegt werden. Dann ist professionelle Pflege auch nichts anderes als liebgemeintes Kümmern. Den Unterschied zwischen jemandem etwas Gutes tun – und etwas Gutes bei jemandem bewirken – den macht professionelle Pflege.
Sie können die Struktur nicht einfach ändern – Ihr eigenes Verhalten jedoch schon
Dass es an Fachkräften mangelt, teilweise Personaluntergrenzen nicht eingehalten werden oder im Krankheitsfall kein Ersatz zur Verfügung steht – darauf haben Sie persönlich in der Regel nicht unmittelbar Einfluss. Diese Dinge zu ändern braucht nicht nur Zeit, sondern erheblich mehr berufspolitisches Engagement Pflegender, um Einfluss auf die Gesundheitspolitik und Kostenträger auszuüben. Zur Wahrheit gehört heute aber auch, dass gerade examinierte Fachkräfte keine Schwierigkeiten haben sollten, ihre Standpunkte klar zu machen und ihre gewünschte Arbeitsweise zu vertreten. Natürlich sind sie nicht unkündbar – aber ein neuer Arbeitgeber ist in aller Regel mit Examen leicht zu finden.
„Trinken Sie mal.“
Szene: Die Pflegeperson tritt an die am Tisch sitzende alte Dame heran. Sie drückt ihr einen Becher mit Wasser in die rechte Hand und sagt: „Trinken Sie mal.“. Die Dame reagiert nicht – oder nicht schnell genug – und flugs nimmt die Mitarbeiterin ihr den Becher wieder aus der Hand und setzt ihn der alten Dame an die Lippen. „Trinken!“.
Das eigene Verhalten, den eigenen Umgang hin- und wieder auf den Prüfstand zu stellen trägt dazu bei, den alltäglichen Stress zu reduzieren und Frustration zu vermeiden. Noch immer gibt es Einrichtungen, in denen jene Mitarbeiter als „gut“ gelten, welche die meisten Heimbewohner bis zum Frühstück „gewaschen“ haben. Masse statt Klasse, sozusagen. Diese Haltung, diese Art Erfolg zu bewerten ist heikel. Denn wenn eine Pflegekraft möglichst viele Personen „fertig machen“ möchte innerhalb eines bestimmten Zeitfensters, geht dies nicht ohne Abstriche in den Ansprüchen an die Qualität der Versorgung. Als erfahrene Pflegekraft beantworten Sie für sich selbst ganz offen was mehr Zeit benötigt: die Person mit Demenz dazu anzuleiten sich anzuziehen – oder die Person anzuziehen? Eben. Es kann Pflegende regelrecht krank machen, wider besseres Wissen handeln zu müssen und es ist eine der großen Herausforderungen des Berufs, sich dem entgegenzustellen.
Adaptionszeit – die Zeit, die man braucht
Wann immer möglich – und ich halte es für falsch und häufig lediglich einen Abwehrreflex zu behaupten, es sei nie möglich: beachten Sie die Zeit, die der Mensch mit Demenz benötigt eine Aufforderung zu hören und darauf zu reagieren. Richtig, auch in meinem Pflegealltag kommt es vor, dass ich aus Zeitgründen – und sicher auch mal aus Gedankenlosigkeit – „durchhusche“. Schneller agiere, als ich sollte. Das kann äußere Gründe habe – zu wenig Kolleginnen und Kollegen z.B., für zu viele zu versorgende Menschen. Auch Vorgänge oder Notfälle die im geplanten Ablauf dazwischenkommen bringen mich dazu, Zeit an anderer stelle wieder aufholen zu wollen – und zu müssen. Mea culpa.
Die große Gefahr ist, dass sich das einschleift. Dass ich jene Phasen, Zeiten und Gelegenheiten nicht mehr wahrnehme, in denen ich nicht zur Eile genötigt werde. Und das geht Kolleginnen und Kollegen in Pflege und Betreuung vielfach genauso. Geschwindigkeit = Erfolg = Normalität.
Zeit sparen durch das Zugeständnis an die Fähigkeiten der Menschen
Zurück zur oben genannten Trinkszene. Besser wäre es gewesen, der Dame Zeit zu lassen. Das gelingt eher nicht gut, wenn man mit der „inneren Stoppuhr“ danebensteht und wartet, ob die Person jetzt (richtig) reagiert oder nicht. Auch Menschen mit Demenz nehmen diese Druck wahr. Besser ist es, die Aufforderung / Bitte auszusprechen – und sich dann vielleicht etwas anderem zuzuwenden, was auch noch erledigt werden muss. Dass Menschen mit Demenz länger brauchen können um etwas umzusetzen ist sicher kein Geheimnis (vgl. z.B. Lancioni, G.E., Singh, N.N., O’Reilly, M.F. et al. Reaction time as an index of attention in persons with Alzheimer’s disease. Neuropsychol Rehabil 28, 60–75 (2018)).
Wie so oft beim Umgang mit Menschen mit Demenz geht es darum, die eigene Routine zu überprüfen. Die eigene Handlung zu hinterfragen – und den Druck den wir in der Pflege spüren, so weit als möglich nicht an die uns anvertrauten Menschen weiterzugeben.
Wenn ich, statt die Dame zu beobachten, vielleicht in der Zwischenzeit dem nächsten Menschen der dies wirklich nicht mehr selbständig kann ein Getränk anreiche, gewinnen wir beide bzw. alle drei.
Führungskräften und Demenzbeauftragten kommt hier eine tragende Rolle zu, vor allem in dem sie Tendenzen entgegenwirken, die Geschwindigkeit mit Erfolg gleichsetzen. Menschen mit Demenz können dieser „Raserei“ nicht folgen, die meisten Kolleginnen und Kollegen in Pflege und Betreuung wollen es auch nicht. Stützen wir sie. Ein Anfang wäre gemacht, wenn wir aufhören würden zu bewundern, wer vor dem Frühstück richtig viele Menschen „fertig gemacht hat.“.
Jochen Gust
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