Zugegeben, wenn der Autor Michael Schmieder heißt, bin ich einem Buch gegenüber voreingenommen. Und habe bestimmte Erwartungen. Ob meine Annahmen bestätigt und meine Erwartungen erfüllt wurden, habe ich hier aufgeschrieben.
Der Autor
Michael Schmieder ist den meisten Menschen in der „Demenz-Szene“ ein Begriff, zumindest wenn sie sich beruflich mit dem Thema befassen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass er als Heimleiter (bis 2015) eine der führenden, eine weit über die Grenzen von Ländern hinaus vorbildliche Einrichtung (Sonnweid) in der Nähe von Zürich geschaffen hat. Heute hält er Vorträge, teilt seine Expertise über mehrere Plattformen – und schreibt Bücher. Schmieder hat einen Pflegeberuf erlernt und ist Ethiker. Im Haus Sonnweid entstand 1998 die erste Pflegeoase. Das war das Jahr in dem ich mich entschied, keine „kaufmännische Karriere“ zu verfolgen sondern Altenpfleger zu werden. Persönlich getroffen habe ich ihn leider nie. Auch sein 2018 erschienenes erstes Buch „Dement, aber nicht bescheuert: Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken“* habe ich noch immer nicht gelesen.
Große Erwartungen
Warum ich trotzdem voreingenommen bin? Nun, weil ich immer wieder Texte bzw. Antworten von ihm in Artikeln las, Kolleginnen und Kollegen Versatzstücke berichteten. Und weil er – für mich – dabei immer wieder wohltuende Verbindungen zeigte: anspruchsvoll, durchdacht – aber auch deutlich in der Sache mit dem Rückgrat, Worte zu wählen die nicht jedem gefallen müssen. Er ist Demenz-Realist ebenso wie Demenz-Pragmatiker – so stelle ich ihn mir jedenfalls vor. Und das ist in der „Demenz-Szene“ nicht unbedingt weit verbreitet. Zu oft werden Pflegende in ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen im Zuge moralisierender Besserwisserei darüber belehrt, was sie tun sollen oder hätten tun müssen. Von Leuten, die selbst nie in solchen Situationen waren oder allenfalls als Besucher am Rande die Pflegewirklichkeit streifen.
Willkommen in der Wirklichkeit
An Schmieders Buch habe ich also die Erwartung, dass er nicht schwadroniert, nicht schönschwätzt und er es nicht um seiner selbst willen verfasst hat. Er kennt den Alltag mit Menschen mit Demenz, er kennt den Alltag und die Abläufe in einer Einrichtung, er kennt die Sorgen und Nöte von Angehörigen, die irrsten und schwierigsten Situationen ebenso wie jene, in denen völlig unvorbereitete Menschen – Betroffene – auf noch viel unvorbereitetere Menschen (Angehörige, Pflege- und Betreuungskräfte) in ein gemeinsames Problem knallen: Demenz.
Das Buch – im Untertitel nur die halbe Wahrheit
„Dement, aber nicht vergessen“*, geschrieben von Michael Schmieder mit Uschi Entenmann und Erdmann Wingert ist 2022 bei Ullstein erschienen und 240 Seiten stark. Der Untertitel erklärt, dass darin acht Empfehlungen zu finden sind, die Menschen mit Demenz guttun. Stimmt das?
Nur bedingt: wer das Buch aufmerksam liest, bekommt mehr als „nur“ acht Empfehlungen. Denn es ist voll mit Erklärungen und auch lehrreichen Geschichten. Und anders als manch anderer Autor kommt es ohne Betroffenheitslyrik aus und ohne die Attitüde, sich selbst als Demenzweltenretter profilieren zu müssen. Ohne sie alle gezählt zu haben – 8 ist auf jeden Fall eine Untertreibung. Trotzdem hier die Aufzählung der Kapitel:
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- Die ersten Anzeichen
- Hilfe für Zuhause
- Das Leben ist schön!
- Wo bin ich Zuhause?
- Lieber tot als demenzkrank?
- Beziehung ist alles
- Wie sich unsere Krankenhäuser verändern müssen
- So könnte die Zukunft aussehen
In einem Zusatzkapitel geht Michael Schmieder anschließend mit sieben Vorschlägen darauf ein, wie seiner Vorstellung nach eine menschenwürdige Pflege in Zukunft gelingen kann.
„Die Erfahrung zeigt, dass gesunde Angehörige meist ähnlich unflexibel reagieren wie Kranke, die ihnen anvertraut sind.“.
Solche Sätze sind für mich „echte Schmieder“. In gewissen Kreisen und Foren dazu geeignet, einen Shitstorm auszulösen – und dennoch wahr, echt und schnörkellos auf den Punkt gebracht. Das macht für mich das Buch an vielen Stellen aus – es bietet Authentizität ohne Herablassung. Der Autor scheut sich nicht, einen Betroffenen „Unruhestifter“ zu nennen ohne den Nimbus desjenigen, der sich opfert um Fehlverhalten eines Mitmenschen auszugleichen.
Für Pflege- und Betreuungsprofis die mit Demenzerkrankungen vertraut sind, enthält das Buch fachlich wenig bis nichts, wenn es um das faktische Wissen zum Thema Demenz geht. Diagnosestellung, Quartiersarbeit etc. werden angehörigengerecht erklärt oder gestreift. Auch, dass sich die Art und Weise wie sich die professionelle Gesundheitsversorgung verändern muss ist eine Binsenweisheit. Beim Thema Krankenhaus spürte ich den Impuls, das Kapitel zu überspringen – als Demenzbeauftragter einer Klinik habe ich eine gute Versorgung für Patienten mit Demenz etabliert und umgesetzt, begleitet von vielen Höhen und Tiefen.
Ein gutes Buch
Sehr gut gemacht ist am Ende der Kapitel, dass „In aller Kürze“ eine Zusammenfassung die Erkenntnisse komprimiert abgerundet werden. So bekommen Lesende das Wesentlich nochmal vor Augen geführt. Es ist deutlich und beantwortet wichtige (Alltags-)Fragen, die vor allem pflegende Angehörige haben. Es erklärt in einfachen Worten Vorgehensweisen, spart nicht mit Kritik wo (rechtliche) Grenzen gute Versorgung behindern und bleibt in einem völlig offen, was ich dem Autor bzw. den Autoren hoch anrechne: wir stehen immer wieder vor schwer zu lösenden Problemen, Dilemmata, müssen schwierige Entscheidungen treffen. Wer A macht, wird in der Versorgung eines Menschen mit Demenz nicht automatisch B auslösen. Diese Offenheit müssen wir uns in der Versorgung bewahren.
Eine gute Pflege, eine gute Betreuung von Menschen mit Demenz leidet auch an der Unterfinanzierung. Ja. Aber sie leidet besonders auch dann, wenn die Verwundbarkeit der Betroffenen auf Menschen trifft, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr wirklich begegnen wollen. Zu einem echten Sicheinlassen nicht (mehr) fähig sind und die einmal gelernten oder gehörten Grundsätze als eine Art Mantra und Rechtfertigung zugleich benutzen, stets dasselbe zu tun egal wie es ausgeht. Beim Thema Erinnerungen schreibt Schmieder etwas, was allzu häufig ignoriert wird und ich jedem der beruflich auch „Biographien erhebt“ ins Stammbuch schreiben möchte: (S. 39) „Die Erinnerung ist nicht zwingend ein Paradies.“. Dies nur als Beispiel, weshalb auch beruflich Pflegende und Betreuende zu diesem Buch greifen können. Wenn vielleicht auch nicht die ersten Adressaten – es ist für viele was dabei 😉 .
Durch die vielen enthaltenen Geschichten werden die Empfehlungen plastisch und nachvollziehbar und „die Demenz“ bekommt viele Gesichter, macht sie und die Betroffenen nahbar und holt sie aus der Theorie. Im Buch kommt zur Geltung, was einer der wichtigsten Sätze meines „Pflegerlebens“ geworden ist in Sachen Demenz. Zum Glück wurde ich ihn gelehrt, ziemlich direkt nach dem Ende meiner Ausbildung zum Altenpfleger:
„Kein Bescheidwissen aufgrund der Diagnose.“. In diesem Sinne lässt das Buch viel offen und lädt ein, näher zu treten und kennenzulernen.
Leseempfehlung für pflegende Angehörige und all jene, die auf Zwischentöne achten und vielleicht noch nicht allzu lang und intensiv beruflich mit dem Thema Demenz beschäftigt sind!
Jochen Gust
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