Biographiearbeit: Alptraum oder Segen?

Biographiearbeit und Erinnerungspflege – in der Versorgung von Menschen mit Demenz gehört das heute wie selbstverständlich dazu.

Das ist auch ein Verdienst von Erwin Böhm, der mit seinem psychobiographischen Pflegemodell sicher viel dazu beigetragen hat, im deutschsprachigen Raum den Fokus von der rein somatischen Betrachtung des „Demenzproblems“ umzulenken.

Biographie kennen und nutzen: wichtig für die Versorgung

Bücher und Webseiten oder Gruppen in sozialen Medien sind voll von allerlei Aktivierungs- und Beschäftigungstipps die auf die individuelle oder kollektive Biographie von Menschen mit Demenz Bezug nehmen. Ob Fotoalben, Bilder, Filme oder Gesprächsrunden – immer spielt die Biographie eine zentrale Rolle. Erinnerungen sollen genutzt werden um eine schöne Zeit, gute Gefühle zu bereiten. Auch als Teil eines „kognitiven Trainings“ können und sollen Elemente der Biographie dienen. Orientierung soll gestützt, das Wohlbefinden verbessert werden. Aber auch zum Verständnis und dem angemessenen Umgang mit herausforderndem Verhalten tragen Kenntnisse aus der Biographie Betroffener bei, Bedürfnisse und Wünsche werden ermittelt, erkannt und verstanden.

Biographiearbeit ist notwendig – aber keineswegs trivial

Nicht nur in Bild- oder Liedform, in Reimen oder Traditionen spielt die Biographiearbeit mit Menschen mit Demenz eine Rolle. Auch im „Retro-Style“ mancher Station lässt sie sich erkennen. Die „gute Stube“ aus den 50ern, Lavalampen und Nierentische sollen ein Daheim-Gefühl vermitteln.

Die Gefahr ist, dass zwischen 10-Minuten-Aktivierung und Gruppen-Fotogucken vergessen wird, dass Biographien Brüche haben können. Erinnerungen können furchtbar sein, quälend, schrecklich. In einem Artikel von Martin Mühlegg wird der Gerontopsychiater Christoph Held entsprechend deutlich.

Kirstin Schütz st Gesundheitswissenschaftlerin und Historikerin (Studiengang Multiprofessionelle Versorgung von Menschen mit Demenz und chronischen Einschränkungen an der Universität Witten/Herdecke) . Ihre Arbeit mit dem Titel: „Cocktailsessel und Nierentisch – Alptraum oder Segen? Biographiearbeit bei der Versorgung von Menschen mit Demenz“ wurde ausgezeichnet. Darin plädiert Schütz für einen sensiblen Umgang mit den Erinnerungen Betroffener. Ein Gespräch:

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Biographiearbeit – ein Gespräch mit Kirstin Schütz

Es ist eine berechtigte Frage – und es sind berechtigte Zweifel, ob in der Arbeit mit Menschen mit Demenz das Thema Biographie immer ausreichend sensibel gehandhabt wird. Insbesondere wenn auch die personellen Strukturen lediglich große Gruppen in Betreuung und Aktivierung zulassen, entstehen Risiken. Zu Recht hinterfragt Kirstin Schütz, ob gerade in der Ausbildung von Hilfskräften oder auch Betreuungskräften die Thematik ausreichend vermittelt wird. Fehlen Angaben zur Biographie und können auch Angehörige nicht darauf hinweisen welche Themen vielleicht besser ausgespart werden, zumindest jedoch in erfahrene Hände gehören, kann es kritisch werden. 

Am Ende müssen Menschen mit Demenz die Folgen tragen – seien wir uns dessen bewusst.

Jochen Gust

Titelfoto via Pexels: Markus Spiske

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