Vor vielen Jahren im Nachtdienst in einem Pflegeheim für Menschen mit Demenz. Ich sehe Frau M. – mal wieder – am Ende eines Flures umherlaufen. Ich rufe ihr zu und winke. „Ah!“, höre ich sie sagen, sie dreht sich um und kommt auf mich zu. Eben freute ich mich noch, dass sie offenbar guter Stimmung ist. Dann sehe ich ihren völlig verdreckten, grauschwarz verschmierten Mund. In der Hand hält sie einen Aschenbecher. Zwei Stummel und etwas Asche waren übrig. Ich war jung und reagierte sehr erschrocken. Es war das erste Mal, dass ich mit so einer Situation konfrontiert und allein war. Ich versuchte dann in ihren Mund zu sehen und darin noch befindliche Reste herauszuholen. Frau M. wehrte sich nach Kräften, biss mir auf die Finger. Wie viele Stummel ich herausholen konnte, weiß ich heute nicht mehr.
Aber die Frage blieb: Wie viele hatte sie bereits heruntergeschluckt? Was jetzt? Wie giftig sind Zigarettenstummel und ab welcher Menge wird’s heikel? Kurz: die Sache ging damals gut aus. Frau M. hatte sich nach meinem „Angriff“ schnell wieder beruhigt und blieb auch sonst guter Dinge in den nächsten Stunden. Giftnotruf und Hausarzt brachten mich telefonisch durch die Nacht.
Dass Menschen mit Demenz Dinge zu sich nehmen in der Annahme, sie seien etwas zu essen oder zu trinken, habe ich in den Folgejahren noch mehrmals erlebt. Mal blieb es bis auf eine gehörige Diarrhö folgenlos (ausgelöffelte Cremedose), mal zog es ernste Konsequenzen nach sich (Reinigungsmittel).
Wie oft passiert es?
Eine Vergiftung kann eine Person nicht nur dadurch erleiden, dass sie etwas herunterschluckt was dafür nicht geeignet ist (oder die verträgliche Menge überschritten wird), sondern auch über die Atmung, Haut- oder Schleimhautkontakt. Wie häufig es insgesamt bei Menschen mit Demenz zu derartigen Vergiftungen kommt, ist mir nicht bekannt. Dr. Maren Hermanns-Clausen, Oberärztin und Leiterin der Vergiftungs-Informations-Zentrale Freiburg teilte mit, dass sich 2021 von insgesamt 34200 bearbeiteten Anfragen 458 auf Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe bezogen. Jedoch konnte sie keine Aussage darüber treffen, wie viele der Gesamtfälle sich auf alte Menschen oder Menschen mit Demenz bezogen. Entsprechende Schlüsse lassen sich daraus also nicht ziehen. Dr.med. Hugo Kupferschmidt vom Giftnotruf Berlin gab an, dass von 41.000 Anfragen rund 40% von Laien, 50% aus Kliniken und lediglich 0,3% aus Pflegeheimen kamen. Bei 226 der Beratungen lag eine Demenz vor bzw. stand im Zusammenhang mit der Vergiftungssituation.
Lesen Sie dazu auch Vergiftungsgefahren bei älteren Menschen BfR.
Risiko minimieren
Eine allumfassende Sicherheit kann es nicht geben. Es passieren die unwahrscheinlichsten Dinge. Jede Maßnahme die ergriffen wird, sollte zudem sorgfältig darauf geprüft werden ob sie (schon oder noch) angemessen ist. Bei fortgeschrittener Demenz kann das Risiko für Vergiftungen verringert werden indem
- Reinigungs- und Desinfektionsmittel sicher vor dem Zugriff Betroffener verwahrt werden oder alternativ mit Dosierhilfen oder Verschlüssen versehen sind, die nicht ohne Weiteres entfernt oder geöffnet werden können.
- auch weitere „Haushaltsflüssigkeiten“ wie beispielsweise Lampenöle, Türschlossenteiser, Grillanzünder, Backofenreiniger u.ä. sollte sicher verwahrt werden.
- Lebensmittel die unzubereitet zu Vergiftungen führen können nach dem Kauf direkt (gemeinsam) verarbeitet werden. Dazu zählen z.B. Grüne Bohnen, Rhabarber, Wildpilze, Kartoffeln, Maniok u.a. .
- keine Dekorationsartikel die Nahrungsmittel imitieren verwendet werden. Wichtig: füllen Sie niemals Haushaltschemikalien zur Aufbewahrung in Gefäße die normalerweise Nahrungsmittel enthalten (Spülmittel in Wasserflaschen z.B.).
- Zier- und Zimmerpflanzen die zu Vergiftungen führen können ausgetauscht oder ersetzt werden.
- abschließbare Mülleimer verwenden oder keine potentiell gefährlichen Substanzen dort hineinwerfen oder nochmals sicher verschließen und direkt hinausbringen.
- bei Aktivitäten, ob im Garten oder anderweitig unterwegs, darauf geachtet wird was Betroffene in den Händen halten, pflücken, aufheben.
Achja: Verwenden Sie Aschenbecher mit Deckel und entsorgen Sie Stummel und Asche sobald wie möglich vollständig.
Platzieren Sie die Nummer des Giftnotrufzentrums (siehe unten) in der Nähe Ihres Telefons und speichern Sie die Nummer in Ihrem Smartphone ab.
Vergiftungszeichen
Vergiftungen können sich ganz unterschiedlich zeigen und sind daher möglicherweise schwer zu deuten. Es kommt auf die Substanz, die Menge, die Art des Kontakts und weitere Aspekte an. Vergiftungssymptome können unter anderem
- Übelkeit, Erbrechen
- Durchfall
- Bauch- und / oder Kopfschmerzen
- Schwindel
- Erregungszustände, Verwirrtheit
- untypische Pulslage
- Blässe, Hautrötung
- Schock
- Probleme mit der Atmung
- Bewusstseinstrübung bis zur Bewusstlosigkeit
- Kreislaufstillstand
sein.
Achtung: wenn Sie gesehen haben oder es hinreichend wahrscheinlich ist, dass jemand etwas Ungeeignetes konsumiert hat: warten Sie nicht ab ob sich Symptome zeigen. Bleiben Sie ruhig, aber reagieren Sie sofort.
Vielleicht vergiftet? Was jetzt?
Das konkrete Vorgehen ist abhängig von den Umständen. Verhindern Sie möglichst eine weitere Exposition des Betroffenen mit der gefährlichen Substanz, sofern möglich und sie selbst dadurch nicht in Gefahr geraten. Anschließend informieren Sie den Rettungsdienst und ((oder), je nach Umständen des Einzelfalls)) den Giftnotruf Ihres Bundeslandes. Auch hier gilt: better safe than sorry – lieber einmal zuviel anrufen, als einmal zu wenig.
Sprechen Sie das Vorgehen und 1.Hilfe-Maßnahmen mit den Experten ab – die führen Sie durch die Situation! 24-Stunden am Tag! Wenden Sie nicht selbständig Haushaltsmittel an, z.B. um Erbrechen herbeizuführen. Bewahren Sie Reste der (vermuteten) Substanz auf, ggfs. auch Erbrochenes sowie Etiketten von Chemikalien.
Ich hoffe, eine derartige Situation bleibt Ihnen erspart.
Jochen Gust
Hi Jochen,
ich finde deinen Artikel sehr schön formuliert und wollte dir für deine Mühe kurz danken. Deine Website ist sehr praktisch, um sich über das Thema von Demenz (auch im allgemeinen) zu informieren!
Liebe Grüße
Carla
Vielen Dank!