Vor mehr als 20 Jahren habe ich erstmalig bewusst sowohl Pflegefachpersonen kennengelernt, als auch Menschen mit Demenz. Und den jeweiligen Umgang miteinander, die Strukturen und die Reaktion auf Krisen. Es wäre falsch zu behaupten, seit damals habe sich nichts getan. Vielerorts ist das Schulungsangebot größer geworden, zusätzliche Betreuungskräfte gab es früher nicht und sind heute auch absoluten keine Ausnahmeerscheinungen mehr. Gerade in Krankenhäusern spielten bauliche Bedingungen oder die angemessene Gestaltung der Patientenumgebung überhaupt keine Rolle hinsichtlich der Bedürfnisse von Menschen mit Demenz. Da hat sich doch einiges getan. Hier und dort zumindest. Und es sind auch viele Kolleginnen und Kollegen begeistert eingestiegen, in die spezielle Demenzversorgung. Regina, die mich angeschrieben hat aktuell, war gewisse mal eine von diesen Begeisterten.
Kinder und Mitarbeitende in Not
Aktuell haben wir eine akute Krise der Kinderkliniken. Grundproblem: Kindermedizin und -pflege ist nicht lukrativ, Medikamente für die kleinen Patienten fehlen – sind auch nicht lukrativ (genug). Pflegekräfte und Mediziner sind völlig überlastet aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens. So unfassbar bitter das ist – tote Kinder die nicht hätten sterben müssen, sind vielleicht einfach nicht mehr zu vermeiden. Politiker*innen können nur mittel- und langfristig für Verbesserungen sorgen. Das wissen die auch, weswegen sie sich aktuell wegducken, das Thema vermeiden oder auf Gesetzesvorhaben verweisen, die wirken sollen. Irgendwann später. Manche verreisen gar in die USA in dieser kritischen Situation, was man als Signal werten kann: mehr können und werden wir politisch nicht tun, kommt klar. Den Rat und die Möglichkeit, Personal sanktionsfrei innerhalb der Kliniken umzusetzen auch wenn Untergrenzen unterschritten werden, gab es gratis. Sozusagen, um das Thema abzuschließen. Das war`s.
Eine Frechheit schon deswegen, weil Krankenhäusern und deren (Führungs-)Kräfte damit unterstellt wird, als würden sie nicht selbst (ständig) Mitarbeitende rochieren lassen, verschieben, umdeligieren innerhalb der Organisation. Das ist längst Klinikalltag, eigene Springerpools wurden dafür aufgebaut. Anders geht es vielerorts schon lange nicht mehr – im Regelbetrieb.
Nicht nur die Kinder leiden: Patienten mit Demenz sind ebenfalls Krisenopfer
Viele Mitstreiter in Sachen Demenz erhalten derzeit wieder verstärkt empörte Nachrichten oder führen Gespräche mit Angehörigen darüber, wie Menschen mit Demenz in Krankenhäusern behandelt wurden. Das verwundert nicht. Schon vor der aktuellen Krise waren viele Kliniken nicht ausreichend auf Patienten mit Demenz eingerichtet. Mitarbeitende wurden nicht vorbereitetet in schwierigen Situationen sich selbst überlassen, es fehlt an Material und Ausstattung, ganz abgesehen vom Personalmangel an und für sich.
Demenz ist „nice to have”
Es gibt jedoch auch Einrichtungen – sowohl Kliniken als auch z.B. Pflegeheime – die den besonderen Bedarf nicht nur erkannt, sondern auch gehandelt haben. Entsprechend gibt es auch gut geschulte Ärzte und Pflegefachleute. Geriatrieprofis, die eine rehabilitative Versorgung gewährleisten sollen und wollen. Eine Pflegefachfrau – Regina – hat mir eine E-Mail geschrieben. Und ordentlich Frust rausgelassen. Sie arbeitet geriatrisch-rehabilitativ und speziell mit Patienten mit Demenz. In einem „Otto-Normal-Krankenhaus“ gibt’s eine eigene Abteilung dafür. Und ich fürchte, wir werden sie bald verlieren.
Unter anderem schrieb sie
Das kenne ich aus Krankenhäusern wie aus Pflegeheimen. Wenn es eng wird an irgendeiner Stelle, wird Personal häufig zuallererst in der geriatrischen Abteilung oder von der speziellen Demenzstation abgezogen. Weil man dort gut (im Sinne von besser als die anderen) besetzt ist. Manchmal auch damit begründet, dass dort mehr zusätzliche Betreuungskräfte / Hilfskräfte oder Ehrenamtliche „aushelfen“.
Ich kann die Frustration darüber verstehen. Im Lauf meiner Arbeit habe ich diese Maßnahme und Hilflosigkeit mehr als einmal selbst erlebt.
Es ist höchst frustrierend, dass man den zusätzlichen Zeitaufwand der für Menschen mit Demenz einfach notwendig ist in der Versorgung, in solchen Situationen immer wieder vor Augen geführt bekommt. Das Abziehen der notwendigen Fachleute geht immer mit der implizierten Aussage einher, dass der Aufwand für die spezielle Versorgung von Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen eben ein „nice to have“ ist. Ein Aufwand sozusagen, den man treiben kann wenn „nichts los“ ist.
Alte haben keine Priorität, Demenz ist kein Kriterium
Das ist bitter für den einzelnen Patienten. Die personelle Umsetzung spielt aktuell Kinder gegen Alte aus. Enkel gegen Großeltern. Auf dem Rücken der Gesundheitsprofis. Und die wissen zugleich, dass es an „beiden Enden“ nicht wirklich für eine gute Versorgung reichen wird. Es wäre interessant zu erfahren, wie stark der Verbrauch an Psychopharmaka in diesem Winter steigt. Medikamente, die häufig Krücken sind um den Personalmangel abzufangen, fehlendes Wissen oder nichtangepasste Strukturen auszugleichen. Wieviele Patienten mit Demenz werden in diesem Winter vorzeitig aus einer geriatrischen Rehaversorgung entlassen werden, weil „nicht therapiebar“? Wie häufig wird man herausfordernde Verhalten behandeln, in dem man Patienten in Psychiatrien verschiebt? Oder in die häusliche Pflege entlässt und den ebenfalls entkräfteten Angehörigen die Behandlung mittles „Bedarfsmedikation“ überlassen wird? Wie viele der Kolleginnen in der Gesundheitsversorgung werden am Ende des Winters vor einem Berg Schuldgefühlen stehen? All das weiß ich nicht. Werde es nie wissen.
Wie gut ich das nur kenne, Regina.
Ich verstehe Dich, liebe Regina. Wirklich. Ich kenne Deinen Frust. Ich war an dem Punkt. Oft. Und Deine Nachricht hat mich ein paar Minuten wieder mitgenommen. Ich danke Dir für Dein Vertrauen. Und auch, wenn Dir keine Zeile hilft die ich Dir zurückgeschrieben habe hinsichtlich von Organisation und Argumentation innerhalb Deines Hauses: wisse, Du bist nicht allein. Es steht mir auch nicht zu, Dich zu bitten noch nicht auszusteigen – auch wenn das mein innerer Impuls ist. Wie gut ich das nur kenne, liebe Regina. Ich hoffe so sehr, dass Menschen wie Du einen Weg finden, zu bleiben. Gleichzeitig musst Du Dich selbst davor bewahren, als Einzelkämpferin ein kaputtes System akut beeinflussen zu wollen. Die eigenen Kräfte an etwas zu verschwenden, was auch für andere bedeutsam ist, ist großartig. Wenn das System Dich jedoch zu fressen droht, liebe Regina, dann lass los.
Jochen Gust
Foto: iStock
Ein Kommentar