In Pflege und Betreuung ist die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem was man mit sich selbst und mit anderen Menschen macht, unabdingbar. Gegenüber Menschen mit Demenz ist das Risiko groß, die selbstkritische Betrachtung eigener Handlungen weniger zu hinterfragen. Schließlich kann man seinen eigenen Verstand, sein Wissen, problemlos einsetzen um die verschiedensten Situationen zu bewältigen, während Menschen mit Demenz die hilfe- und unterstützungsbedürftigen sind. In Pflege und Betreuung sind wir objektiv, wenn wir Maßnahmen planen, Therapie einleiten oder eskalieren, die Versorgung sicherstellen und optimale Unterstützung zu ermöglichen. Richtig?
Denkfehler – Irren ist menschlich
Ein Denkfehler ist eine Verzerrung oder eine Fehlinterpretation der Wahrnehmung oder Bewertung von Informationen, die zu einer falschen Schlussfolgerung führen kann. In der Versorgung von Menschen kann das fatal sein – und zum Beispiel zu weniger Kontakt für die Betroffenen führen, zu weniger Unterstützung – und möglicherweise zu einem größeren Medikamenteneinsatz. Dabei sind Denkfehler zutiefst menschlich – und für niemanden völlig zu vermeiden.
Wenn 2 das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe
Mit ausreichend zeitlichem Versatz und natürlich anonymisiert ein Beispiel aus meiner Arbeit:
Frau Müller lebt mit Demenz im Haussonnenschein. Sie wird von allen sehr geschätzt. Die adrette alte Dame läuft viel herum, geht auch mal in fremde Zimmer und legt sich dort ins Bett für ein Nickerchen. Dafür hat man viel Verständnis („Orientierungsgestört“) und warb auch bei den Mitbewohnern immer wieder darum, wenn die sich über die fremde Frau in ihren Betten beschwerten. Außerdem umarmt sie spontan sowohl die Mitarbeitenden, als auch ihre Mitbewohner – einfach weil ihr danach ist. Sie gilt als „richtig liebe Omi.“ – so wird sie mir beschrieben, als ich wegen einer anderen Sache in der Einrichtung war.
Schon beim ersten Besuch in dem Haus habe ich es – allerdings nicht richtig bewusst – wahrgenommen. Erst in der Übergabe bei meinem dritten Gastspiel fiel es mir richtig auf:
Auf derselben Station war Peter K. untergebracht. Ein großer, hagerer, ungepflegt wirkender und sehr dementer Mann. Dieser Bewohner „störte“ die anderen Bewohner, und immer öfter „respektiert er die Privatsphäre anderer Bewohner nicht“. Manchmal lief Peter K. nämlich in fremde Zimmer und setze sich dort in Sessel oder auf die Betten, meist um Zeitung zu lesen. Peter K. verstand wenig von dem was man ihm sagte. Auf deutliche Ansprachen, dass er in fremden Zimmern „nichts zu suchen“ habe, so berichtete man mir, reagierte er sogar „übergriffig“ in dem er den Mitarbeitenden „völlig distanzlos“ auf die Schulter klopfte oder den Arm tätschelte. Eine Kollegin gab an, Angst vor dem Mann zu haben – schon seit er im Haus sei… .
Ich bin sicher, es ist Ihnen schon beim Lesen aufgefallen. Die „liebe Omi“ zeigt prinzipiell dasselbe Verhalten – und wird durch die Mitarbeitenden geschützt und ihr großes Verständnis entgegengebracht. Sie kann nichts falsch machen, die alte Sympathin.
Peter K. der große, wenig attraktive und vielleicht sogar etwas unnahbar wirkende alte Herr galt niemandem als „sympathischer Opi“ – und erfährt ein ganz anderes Urteil durch die Pflege und Betreuung. Der Entschluss lautete, den Hausarzt aufzufordern etwas gegen die Distanzlosigkeit zu unternehmen, bevor es möglicherweise zu einem tätlichen Angriff kommen würde. Viele Mitarbeitende sahen sich durch die Handlungen der beiden Bewohner jeweils in ihrem Sympathie-Antipathie-Urteil bestätigt: die liebe Frau Müller umarmt, weil sie eben die liebe Frau Müller ist und so auch „Dankbarkeit“ ausdrückt. Egal was sie tat, alles floss in die Bestätigung ein, was für ein „guter Fang sie für die Station“ sei. Wie schön, mal so einen Sonnenschein versorgen zu dürfen.
Im Gegensatz dazu Peter K.. Alles was er tat bestätigte, dass er „unangenehm“ ist. Der Unsympath tätschelt während einer (sinnlosen) Strafpredigt nicht etwa zur Beruhigung den Arm seines Gegenübers um zu signalisieren, „Okay, tut mir leid. Sind wir wieder gut?“. Nein, er zeigt damit, dass er sich in der Vorstufe eines körperlichen Angriffs befindet, sein Verhalten wurde als „respektlos“ und „bedrohlich“ gewertet. Während Frau Müller auch mal Essen von ihren Mitbewohnern „stibitzte“, griff Herr K. unverschämt anderen in die Teller und musste daher allein an einem Tisch essen…..
Ach, Ihnen nicht?
Vielleicht finden Sie das Beispiel aus meinem Arbeitsalltag albern denn etwas in dieser Art kann Ihnen als Profi natprlich nicht passieren. Sind Sie sicher? Kognitive Verzerrungen, Denkfehler haben viele Formen. Vielleicht haben Sie von einigen gehört. Z.b. dem Horn-Effekt, dem Halo-Effekt, dem Bestätigungsfehler oder von Übergeneralisierung? Lohnt es sich wirklich nicht, die stark übergewichtige Pflegebedürftige zur Sitzgymnastik oder pflege der Hochbeete mitzunehmen, weil sie von Bewegung offensichtlich nicht viel hält?
Ohne Zahlen dazu parat zu haben: wenn jeder Mensch Denkfehlern unterliegt, unterliegen wir diesen auch in der Versorgung von Menschen mit Demenz an der ein oder anderen Stelle. Und vielleicht ist das ein Thema, mit dem wir uns viel mehr beschäftigen sollten, als wir es tun. Um unserer (Vor-)Urteile willen. In jedem Fall halte ich es für eine Aufgabe aller Demenzbeauftragten in allen Einrichtungen und Standorten.
Einen Tipp habe ich, weil ich es vor Jahren während einer langen Autofahrt genossen habe: „Glaub nicht alles was Du denkst“ von Alexandra Reinwarth. Das (Hör-)Buch bietet einen tollen, leichten Einstieg mit völlig aus dem Leben gegriffenen Beispielen von Denkfehlern. Die wir alle machen.
Jochen Gust
Titelfoto: Max Vakhtbovych on pexels
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