
Ein Krankenhausaufenthalt ist für die meisten Menschen eine Ausnahmesituation. Für Menschen mit Demenz bedeutet er jedoch häufig eine existentielle Krise. Angehörige berichten immer wieder, dass ihre Mutter oder ihr Vater nach dem Klinikaufenthalt „wie ausgewechselt“ sei – orientierungslos, deutlich schwächer, nicht selten mit bleibenden bleibenden Einschränkungen und höherem Versorgungsbedarf als zuvor. Studien bestätigen diese Erfahrungen: Der Krankenhausaufenthalt ist für Menschen mit Demenz riskant. Warum ist das so, welche Folgen hat es – und was müsste sich ändern?
Wenn Strukturen nicht passen
Krankenhäuser sind in erster Linie auf akute medizinische Probleme ausgerichtet: Herzinfarkte, Infektionen, Operationen. Und eine Demenz an und für sich ist erstmal kein akutes medizinisches Problem. Demenz gilt häufig nur als Nebendiagnose bei einem Krankenhausaufenthalt – obwohl sie den gesamten Behandlungsverlauf mitbestimmt. Für Menschen mit Demenz bedeutet die Klinik fast immer den Verlust von Orientierung, Routinen und vertrauten Bezugspersonen. Hinzu kommt, dass viele Krankenhäuser baulich und organisatorisch nicht auf die besonderen Bedürfnisse dieser Patientengruppe eingestellt sind. Lange, unübersichtliche Flure, wechselndes Personal, grelles Licht, hektische Abläufe – all das verstärkt Unsicherheit und Angst. Angehörige erleben daher oft, dass ihre demenzerkrankten Familienmitglieder im Krankenhaus regelrecht „untergehen“.
Schlechtere Behandlungsergebnisse
Schlechtere Behandlungsergebnisse – Demenz im Krankenhaus
Vergleich von Patient:innen mit vs. ohne Demenz (stationär). Relatives Risiko (adjusted OR) und ausgewählte Komplikationsraten.
Zusatz: Mindestens eine der vier Komplikationen tritt bei Demenz-Patient:innen deutlich häufiger auf (RR ≈ 2,5).
- Vergleich stationärer Verläufe mit vs. ohne Demenz; alters- und komorbiditätsbereinigt (aOR/RR).
- Komplikationsraten stammen aus einem bevölkerungsweiten Kollektiv (New South Wales, Australien; 2006–2007), risikoadjustiert auf Episodebene.
Menschen mit Demenz haben im Krankenhaus nachweislich schlechtere Outcomes als andere ältere Patientinnen und Patienten. Komplikationen wie Infektionen, Stürze, Mangelernährung und Dekubitus treten bei Demenzkranken signifikant häufiger auf. Sie liegen im Schnitt drei bis sieben Tage länger als vergleichbare Patienten ohne Demenz. Auch die Sterblichkeit ist erhöht. Viele Betroffene verlassen die Klinik in einem deutlich schlechteren Zustand – Mobilität, Alltagskompetenzen oder Kommunikationsfähigkeit gehen verloren. Innerhalb von 30 Tagen nach Entlassung kommt es zudem deutlich häufiger zu erneuten stationären Aufnahmen (Drehtür-Effekt). Besonders gravierend ist der dauerhafte Verlust an Selbstständigkeit. Nicht selten ist ein Krankenhausaufenthalt der Kipppunkt, nach dem eine Pflegeheimaufnahme unvermeidbar wird.
Belastung für die Mitarbeitenden jeder Klinik
Auch für Pflegefachpersonen und Ärzte ist die Situation belastend. Menschen mit Demenz benötigen mehr Zuwendung, Orientierung und Begleitung – in einem System, das auf Effizienz und schnelle Abläufe getrimmt ist.
Unruhe, Verweigerung von Untersuchungen oder Weg/Hinlauftendenzen stellen die Mitarbeitenden vor Herausforderungen, für die oft weder Zeit noch Schulungen vorhanden sind. Pflegende berichten von Frustration, Stress und dem Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. Das führt zu moralischem Druck (moral distress) und einem erhöhten Burnout- oder Coolout-Risiko. Das Ergebnis sind schlechte Erfahrungen für Patienten und Angehörige bei gleichzeitiger Überforderung der Mitarbeitenden.
Teure Fehlversorgung
Die schlechte Versorgung ist nicht nur menschlich belastend, sondern auch teuer. Menschen mit Demenz verursachen durch längere Liegezeiten, zusätzliche Komplikationen und Wiederaufnahmen zum Teil deutlich höhere Kosten als andere Patienten.
In Deutschland werden die Zusatzkosten pro Fall auf rund 1.200 Euro geschätzt, bei verlängerten Liegezeiten kommen pro Tag weitere 500 bis 1.500 Euro hinzu. Internationale Studien sprechen von Mehrkosten im fünfstelligen Dollarbereich pro Jahr und Patient. Summiert auf die steigende Zahl Betroffener entstehen so Milliardenkosten – für etwas, das durch demenzsensible Strukturen zumindest teilweise vermeidbar wäre.
Strukturelle Probleme und Fehlanreize
Warum ändern die Kliniken das nicht einfach? Der Grund liegt u.a. im Finanzierungssystem. Abgerechnet wird über Fallpauschalen (DRGs). Gezahlt wird für die Hauptdiagnose und bestimmte Prozeduren – nicht für den tatsächlichen (Pflege)Aufwand.
Demenz taucht zwar oft als Nebendiagnose auf, erhöht die Vergütung aber nur geringfügig. Der Mehraufwand in der Pflege, die längere Aufenthaltsdauer und die zusätzlichen Risiken bleiben unvergütet. Für die Kliniken bedeutet das: viel Arbeit, aber kein finanzieller Vorteil. Präventive und begleitende Maßnahmen lohnen sich systemseitig nicht. So entsteht ein Teufelskreis: Je komplexer der Patient, desto unwirtschaftlicher wird seine Versorgung für das Krankenhaus.
Als ich noch als Demenzbeauftragter im Krankenhaus gearbeitet habe, habe ich gesehen wie viel geändert werden kann und wie effektiv eine Sonderstation sein kann. Es gibt schließlich auch Krankenhäuser, die sich des Themas (teils schon lange) angenommen haben.
Politische Forderungen
Dass sich insgesamt etwas ändern muss, ist inzwischen erkannt. In der Nationalen Demenzstrategie, die Bund, Länder und Fachverbände gemeinsam beschlossen haben, werden konkrete Maßnahmen benannt: Demenzsensible Krankenhäuser sollen etabliert werden – durch bauliche Anpassungen, feste Abläufe und geschultes Personal. Angehörige sollen systematisch einbezogen werden, da sie wichtige Informationsquellen und Orientierungspersonen sind. Zudem sind Schulungen und Weiterbildungen für alle Berufsgruppen vorgesehen, die im Krankenhaus mit Menschen mit Demenz zu tun haben. Nicht zuletzt geht es um neue Finanzierungsmodelle: Der erhöhte Pflegeaufwand muss abgebildet werden, um demenzsensible Strukturen wirtschaftlich möglich zu machen. Die puren Zahlen geben es her: Demenz im Krankenhaus darf keine Nebensache sein, sondern muss in der Krankenhausplanung und -finanzierung als zentrale Herausforderung berücksichtigt werden.
Fazit: Menschlich und wirtschaftlich notwendig
Viele Krankenhäuser sind für Menschen mit Demenz aktuell Hochrisiko-Orte. Für die Betroffenen bedeutet das Leid und Verlust an Lebensqualität, für Angehörige Frustration, für Mitarbeitende Überlastung. Und für uns alle: vermeidbare Kosten in Milliardenhöhe.
Demenzsensible Strukturen, mehr und regelmäßig praxisnahe Schulungen, Einbindung der Angehörigen und eine Finanzierung, die den tatsächlichen Aufwand abbildet. Das wäre nicht nur menschlich geboten, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Solange diese Veränderungen ausbleiben, bleibt der Satz vieler Angehöriger leider bittere Realität: „Das Krankenhaus hat mehr geschadet, als geholfen.“.
Gerade vor diesem Hintergrund tue ich mich schwer, wenn seitens Beratungsstellen oder auf Webseiten empfohlen wird, Menschen mit Demenz ins Krankenhaus einweisen zu lassen, wenn kein (Kurzzeit)Pflegeplatz von Angehörigen gefunden wird. Krankenhäuser sind nicht die geeigneten Verschiebebahnhöfe für Menschen mit Demenz und können ein strukturelles Problem an anderer Stelle nicht mal eben abfangen. Wer Menschen mit Demenz ins Krankenhaus einweisen lässt um für einen Zeitpuffer zu sorgen oder weil das dortige Entlassmanagement schließlich „irgendeine“ Lösung für den fehlenden Pflegeplatz finden muss nimmt zumindest in Kauf, dass die Prozedur den Betroffenen schadet. Das entbindet Krankenhäuser nicht von ihrer Verantwortung Menschen mit Demenz besser zu versorgen. Krankenhauseinweisungen sollten jedoch nicht als Abkürzung aus einem strukturellen Problem normalisiert werden.
Jochen Gust
*Die Prozentwerte im oberen Block sind relative Risikoanstiege (adjusted OR) bei Demenz im Vergleich zu Nicht-Demenz im Krankenhaus (nicht „absolutes Risiko durch Krankenhaus“). Die Raten unten sind risikoadjustierte Komplikationsraten in einem großen Verwaltungsdatensatz (NSW, Australien).