Hilfreiches Therapieprinzip mit Risiken und Folgen: Bedarfsmedikation

Es ist für viele Situationen enorm hilfreich, wenn Mediziner zusätzlich zur laufenden Medikation Medikamente „bei Bedarf“ anordnen. Z.B., damit Pflegende angemessen auf verschiedene Schmerzzustände reagieren können. Zugleich bietet die Bedarfsmedikation jedoch großes Missbrauchspotential.

Es ist kein Geheimnis, dass Menschen mit Demenz zu viele Psychopharmaka zur Beruhigung erhalten in Deutschland. Hinsichtlich der Dauerverordnung von kritischen Arzneimitteln kann man sich die Ergebnisse des Pflege-Report 2023 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hier anschauen. Auch Professor Glaeske hat immer wieder dazu untersucht und veröffentlicht. Lesen Sie hier ein Interview mit ihm.

Untersuchungen beziehen sich dabei oft auf problematische Dauerverordnungen. Für viele der eingesetzten Medikamenten sind hohe Gesundheitsrisken dokumentiert, wenn sie dauerhaft eingenommen werden. Nicht erfasst sind meistens Verordnungen über sogenannte „Bedarfsmedikation“. Bei dieser verschreibt ein Arzt ein Medikament, das von Pflegefachleuten bei Bedarf verabreicht werden kann. Dieser Bedarf muss jedoch genau definiert werden. Ist das bei leicht bestimmbaren Parametern – z.B. bei einem Blutdruck über einem festgelegten Wert oder bei Übelkeit oder Atemnot in Folge bestimmter Zustände noch relativ einfach, wird es im Zusammenhang mit Beruhigungsmitteln und Menschen mit Demenz schnell problematisch.

Zum einen ergeben sich rechtliche Problematiken. Pflegefachleute haben eine Durchführungsverantwortung und eine Remonstrationspflicht in ihrem Tun – auch bzw. gerade dann, wenn ein Arzt etwas verordnet hat. Es drohen berufs- bzw. arbeitsrechtliche und sogar strafrechtliche Konsequenzen. Pflegefachleute sind keine Hilfsärzte und dürfen sich auch nicht via unvollständiger Verordnung selbst dazu machen (lassen).

Um überhaupt angemessen mit bei bedarf verordneten Psychopharmaka umgehen zu können, ist eine genaue Einhaltung der Regeln unerlässlich. Das bedeutet für Pflegefachleute auch, Ärzte immer wieder dazu zu nötigen, genau Angaben zum Bedarf zu machen. Kolleginnen und Kollegen berichten immer wieder von gereizten bis genervten Reaktionen auf die Nachfragen. Sie sind aber absolut notwendig – nicht nur aus rechtlicher Sicht. Manche Pflegedienstleitungen untersagen die Arbeit mit Bedarfsmediaktion in Folge der Unsicherheiten oder Konflikte mit Ärzten auch vollständig. Das hat zur Folge, dass Flexibilität wegfällt und entsprechend auch bei wiederholenden Ereignissen jedes Mal der behandelnde Arzt kontaktiert werden muss. Im Einzelfall kann das eine zeitnahe Reaktion verzögern, was durchaus Nachteile mit sich bringt.

Fehlen genaue Angaben zu den Umständen, wann ein Beruhigungsmittel bei Bedarf gegeben werden darf, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Jede Pflegefachfrau und jeder Pflegefachmann kennt Pflegende, die eher nervendünn sind. Besonders in nichtspezialisierten Einrichtungen – z.B. den meisten Krankenhausabteilungen, aber auch in vielen Pflegeheimen entscheidet dann womöglich Laune, persönliches Belastungsempfinden und nicht zuletzt der Wissensstand im Umgang mit Menschen mit Demenz die Hauptrolle bei der Entscheidung darüber, ob und wann Menschen mit Demenz die Bedarfsmedikation erhalten. Manchmal fehlt sogar die Regelung, in welchem zeitlichen Abstand diese gegeben werden darf.

Die Überlastung, der Zeitdruck und der Mangel an Kolleginnen und Kollegen fördert die vorschnelle Gabe von Beruhigungsmitteln. Denn nichtmedikamentöse Alternativen im Umgang mit Menschen mit Demenz müssen nicht nur bekannt und ausprobiert werden, sondern auch personell und zeitlich gestemmt werden können.

Der Mangel an Fachkräften und in Sachen Demenz gut fortgebildeten Hilfskräften trägt sicher dazu bei, dass man mit Bedarf schneller bei der Hand ist. Medikamentöse Notwehr gegen Systemfehler. Das schadet nicht nur Menschen mit Demenz. Auch Pflegefachleute leiden darunter. Leiden darunter, zu Lorazepam gegriffen zu haben obwohl sie gewusst hätten, wie sie – mit den entsprechenden zeitlichen Ressourcen – dies hätten vermeiden können. Nicht selten lassen sich Pflegefachleute sogar zu einer verdeckten Medikamentengabe hinreißen, wenn Menschen mit Demenz sie nicht einnehmen wollen. Das Bewusstsein, dass die Medikamentengabe eine freiheitsentziehende Maßnahme sein kann, muss auch im Rahmen von Fortbildungen immer wieder geschärft werden.

Als Externer der zur „Falllösung“ gerufen wird – ob in Familien, Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern ist häufig das mein Vorteil. Ich bringe die Zeit mit, die es braucht. Ich muss nicht zur nächsten Klingel, nicht zum nächsten Patienten / Pflegebedürftigen. Ich zaubere nicht, ich habe Zeit. Freilich sieht das anders aus, wenn ich im Normalbetrieb mitschwimme. Dann muss ich schnelle, praktikable Lösungen finden, ebenso wie ich sie in Schulungen zu vermitteln suche.

Meine Hochachtung gilt stets jenen Pflegefachfrauen und -männern, die den Mut haben „Nein“ zu sagen, wenn Dritte fordern „Gib ihm mal Bedarf.“, wenn sie noch Alternativen sehen oder die Umstände die in der Verordnung festgelegt sind, nicht als erfüllt ansehen. Oft genug stemmen sie sich damit gegen die starke Meinung „grauer Eminenzen“ in ihrem Team, mit dem sie weiter leben und arbeiten müssen, wenn ich längst wieder weg bin.

Meine Hochachtung Euch.

Jochen Gust

Titelfoto: Foto von Anna Shvets on pexels

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