Warum wir den Schein wahren sollten

Alle Menschen haben kontextabhängig ein Bild, das Sie von sich Dritten gegenüber gewahrt wissen wollen. Menschen mit Demenz genauso wie ohne.

Wir alle tragen in gewisser Weise Masken, spielen Rollen und sorgen so dafür, dass wir unser Selbstbild aufrechterhalten und Dritte uns möglichst so wahrnehmen, wie wir es wünschen. Das hat verschiedene Gründe, die stark von der Persönlichkeit und vom jeweiligen Kontext abhängen, in dem wir uns befinden. Es ist natürlich und keineswegs ein „Demenz-Phänomen“, eine Fassade nach Außen aufzubauen.

Mal ehrlich: der entfernte Bekannte oder Nachbar, zu dem Sie kaum Kontakt haben, fragt Sie: „Wie geht´s Ihnen?“. Was antworten Sie da? „Danke, gut.“ – auch wenn es nicht stimmt? Lassen Sie sich anmerken, wie unsicher Sie vielleicht sind, wenn Sie den ersten Tag in der neuen Firma verbringen? Haben Sie vielleicht schon mal um des lieben Frieden willens ihre eigenen Gefühle vor jemandem verborgen? Und wie haben Sie sich gefühlt, als jemand etwas an Ihnen entdeckte, was Sie sorgfältig zu verstecken versuchten?

Häufig wird die Fassade die wir Dritten gegenüber aufrechterhalten wollen, (unbewußt) als ein Vorgang des Lügens betrachtet – zumindest bei Dritten. Eine Fassade zu haben sei falsch, führt zu falschen Annahmen, Angaben und Konsequenzen. Das kann im Einzelfall stimmen – z.B. wenn es um die Einschätzung des Grades der Hilfebedürftigkeit (Pflegegrad) geht oder auch darum, ob jemand noch Autofahren sollte oder er eine Gefahr für sich und andere darstellt. Es gibt Situationen und Gründe, eine Fassade beim Gegenüber zu durchbrechen. Aber auch dann stellt sich immer wieder die Frage, wie man das tun kann – und zwar ohne sein Gegenüber unnötig zu beschämen.

Ist eine Fassade, die der Konfliktvermeidung dient, dem Erhalt des Selbstwertgefühls, der Abwehr von Beschämung und der Herstellung von sozialer Akzeptanz verwerflich? Eine Fassade kann auch dazu dienen, die Privatsphäre zu schützen. Das verdecken, was mich verletzlich zeigt und macht. Sie hat darum eine wichtige Funktion – und es steht mir zu, selbst zu entscheiden. Immer wieder erlebe ich Szenen, in denen das Recht auf Selbstschutz und Privatsphäre von Menschen mit Demenz ausgehebelt, geradezu darüber hinweggerollt wird. Völlig außer Acht lassend, dass damit die Beziehung – und damit im Zweifel auch die pflegerische Versorgung der Betroffenen, massiv erschwert werden kann.

Pflege- und Betreuungsprofis in der Versorgung von Menschen mit Demenz müssen behutsam mit dem Thema umgehen. Tagtäglich versuchen auch Patienten und Pflegebedürftige, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Die beste Seite darf nicht mit „der nettesten Seite“ verwechselt werden. Auch jemand der sich massiv darüber beschwert oder gar körperlich wird, kann dies möglicherweise deshalb tun, weil seine Grenzen überschritten wurden. Solchermaßen als Eindringling aufgetreten, führt zur Abwehr und kann auch in einem dauerhaften Rückzug und verfrühter, höherer Hilfebedürftigkeit münden.

Meines Wissens gibt es keine Verpflichtung, Menschen wahrheitsgemäß auf ihre Fehler hinzuweisen und die Fassade zu durchbrechen, die sie sich zu halten bemühen. Nicht umsonst finden Arztgespräche, Fallbesprechungen und Übergaben ohne die Pflegebedürftigen statt – weil wir eben dort sagen müssen und sollten, was ist. Immer wieder wird angenommen, dass Menschen mit Demenz ihre eigenen Defizite nicht mehr wahrnehmen. Das mag ab einem bestimmten Krankheitsfortschritt so sein. Meiner Beobachtung nach ist es jedoch häufig so, dass auch Menschen mit Demenz lange bemüht sind, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Ihr Handeln oder Verweigern kann nicht selten durchaus damit erklärt werden, wenigstens zum Teil. Im Alltag gilt es Wege zu finden, anderen Menschen so gegenüber zu treten, dass sie sich angenommen, willkommen und respektiert fühlen – ohne Angst vor „Entdeckung“.

Verhalten wir uns so, dass wir ihre Erlaubnis bekommen, uns wirklich zu nähern.

Ich will – Quiero

Jochen Gust

Titelfoto: Polina Kovaleva on pexels

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