Altersmedizin: notwendig, aber nicht die Regel

Geriatrie ist die Fachdisziplin, die sich mit dem komplexen Versorgungsbedarf älterer Menschen befasst. In diesem Jahr ist die neue (4. Auflage) des Weißbuchs Geriatrie erschienen.  

Bedarf, Zukunft und Konzept der Geriatrie in Deutschland

Das Buch, erschienen bei Kohlhammer, ist 260 Seiten stark und in 12 Kapitel plus Anhang unterteilt. Entstanden ist es unter Leitung des Vorstandes des Bundesverband Geriatrie e.V. und dem Team der Geschäftsstelle sowie den Landesverbänden.

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„Ohne speziell geriatrisch qualifiziertes Personal kann keine hochwertige, fachspezifische und konzeptionell entwickelte Versorgung der geriatrischen Patientinnen und Patienten erreicht bzw. sichergestellt werden.“

Weißbuch Geriatrie, 4. überarbeitete Auflage, Kohlhammer; S. 197*

      Daten, Informationen und Lücken

      Wie man es von einem Weißbuch erwartet, liefert das Werk kompakt eine Vielzahl von Daten und Fakten zum Thema Geriatrie in Deutschland, weshalb es auch für die Besitzer des Vorgängerbuchs jedenfalls eine lohnende Investition ist. Der Bundesverband Geriatrie e.V. widmet einen Teil des Buchs der Vorstellung und Erläuterung seines eigenen Konzepts zur geriatrischen Versorgung, wozu es meines Wissens bislang auch kein derartig umfangreiches Äquivalent aus anderer Quelle gibt.

      Richtigerweise geht es im Buch nicht nur um die Krankenhausbehandlung geriatrischer Patienten. Vielmehr weisen die Autoren zurecht daraufhin, dass eine umfassende Versorgung älterer Menschen mit geriatrietypischen Merkmalen in der Fläche weder durch Kliniken allein geleistetet werden kann in Zukunft, noch aktuell wird. Vielmehr werden entsprechende Behandlungsbedarfe allzu oft nicht erkannt und es stehen auch nicht überall die notwendigen Versorgungsangebote (gleichermaßen) zur Verfügung. Die nichtstationäre Versorgung von Ambulanten Geriatrischen Zentren (AGZ) bis hin zur begleitenden Behandlung in Pflegeheimen sind Teil des Konzepts bzw. werden im Buch dargelegt. Denn wenn der Grundsatz „ambulant vor stationär“ verwirklicht werden soll, ist ein Ausbau und eine Ambulantisierung geriatrischer Behandlung zwingend für ein Land mit immer mehr alten und hochaltrigen Menschen.

      Geriatrie – nicht für jeden verfügbar

      Übersichtlich wird im Buch dargestellt, dass eine wohnortnahe Verfügbarkeit geriatrischer Behandlungskapazitäten nicht überall in Deutschland in einem 25minütigen Radius (Fahrtzeit) erreichbar ist (S.70). Außerhalb on Ballungszentren, in Ostdeutschland sowie in den südlichen Bundesländern sind Lücken gegeben, die in einer alternden Gesellschaft inakzeptabel sind.

      Nicht wenige Seiten im Buch widmen sich Verfügbarkeits- und Standortfragen bzw. Formen möglicher geriatrietypischer Angebote und wie diese in der Fläche aussehen könnten. Dazu gehört auch, die wirtschaftliche Situation der Geriatrien bzw. die Finanzierung geriatrischer Behandlung (z.B. S.129) in einem solchen Buch zu behandeln.

      Geriatrie – mit ihr muss Deutschland rechnen

      Die Ausgaben für die Pflege älterer Menschen steigen weiter. Reformen und Reförmchen haben dem in den vergangenen Jahren nicht entgegenwirken können. Für die Beitragszahler ist es stets nur teurer geworden, ein Ende der Kostensteigerungen ist derzeit nicht absehbar. Im Weißbuch Geriatrie* stellen die Autoren Berechnungen zu möglichen Einsparungen durch Vermeidung von weiterer Pflege- und Behandlungsbedürftigkeit durch die Altersmedizin an. Im Maximalszenario errechnen sie Einsparungen in Höhe von mehr als 550 Mio. Euro jährlich, im Minimalszenario immerhin noch über 220 Mio. Euro.

      Zu kurz gekommen ist mir persönlich im Buch das Thema Demenz. Gerade mal etwas über zwei Seiten sind der Behandlung von Patienten mit diesem Krankheitsbild gewidmet, die im Wesentlichen auf die positiven Entwicklungen im Krankenhausbereichen und damit der stationären Geriatrien verweisen sowie auf Empfehlungen der Nationalen Demenzstrategie. Da hätte durchaus mehr kommen dürfen – schließlich sind Empfehlungen eben keine Vorschriften, also keine Muss- oder Mindeststandards. Man kann einer Empfehlung nach Belieben folgen – oder es lassen. Andererseits kann ich durch meine Arbeit und die Rückmeldungen und Berichte die mich erreichen durchaus sagen, dass es hier auch in Geriatrien z.T. erheblichen Verbesserungsbedarf gibt. Die vergessliche alte Dame, die macht was man ihr sagt ist auch in jeder geriatrischen Klinik willkommen, keine Frage. Wenn es um herausfordernde Verhaltensweisen geht, ist aber auch trotz altersmedizinischer Spezialisierung schnell die Grenze erreicht und zwischen Sedierung und Weiterverlegung (Psychiatrie) oder extrazügiger Entlassung passiert nicht immer und überall allzuviel.

      Personalentwicklung und -gewinnung muss und darf mehr Thema werden

      Bereits in der Einleitung des Buchs sprechen Dr. Michael Musolf (Vorstandsvorsitzender Bundesverband Geriatrie e.V.) und Dirk van den Heuvel (Geschäftsführer Bundesverband Geriatrie e.V.) an, dass „der Personalmangel (…) in der personalintensiven Geriatrie besonders dramatisch sichtbar (….)“ wird. Dementsprechend hätte ich mir im Weißbuch Geriatrie ein eigenes Kapitel gewünscht, dass sich intensiver mit der Personalgewinnung befasst und auch damit, wie Personal gehalten werden kann. Zwar geht das Kapitel 10 (Qualifikation, Aus/Fort- und Weiterbildung) am Rande auch darauf ein. Im Schwerpunkt jedoch lediglich, um auf eigene Zertifizierungen bzw. Fortbildungsangebote hinzuleiten. Das ist etwas schwach, kann bei Interesse ohnehin der Homepage entnommen werden – und sagt nichts darüber aus, wie Geriatrie Menschen dafür begeistern will, überhaupt in diesem Themenfeld zu arbeiten – und zu bleiben. Sowohl Mediziner, als auch Therapieberufler und erst recht Pflegefachpersonen können es sich heute aussuchen, wo sie arbeiten möchten. Geriatrie wird als Fachbereich jedoch durchaus nicht ausreichend wertgeschätzt und wahrgenommen – gerade bei jungen Menschen. Wie das gehen kann, diese dringend bnötigten Fachkräfte für Geriatrie zu begeistern, sie ins Themenfeld zu ziehen und an geeigneter Stelle in passender Weise zu erreichen – ich hoffe, das wird in der nächsten Auflage ein eigenes Thema. Selbst wenn es nur einige „best practice“-Beispiele aus den Landesverbänden wären.

      Ich jedenfalls habe als Altenpfleger und Demenzbeauftragter im Krankenhaus keinen Tag in der Geriatrie bereut.

      Jochen Gust

      In dieser Buchvorstellung: Weißbuch Geriatrie; W. Kohlhammer GmbH; 4., überarbeitete Edition (4. April 2023); ‎ 260 Seiten, ISBN: 3170430572, 36,00€

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      Titelbild Ridofranz; Istock 1307369109

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