Menschen können gewalttätig werden. Auch dann, wenn sie Patienten sind oder pflegebedürftig. Pflege- und Betreuungskräfte sind immer wieder auch physischer Gewalt ausgesetzt, die allzuoft nicht aufgearbeitet wird. Gerade wenn eine Demenz hinzukommt, wird häufig von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen unterschwellig erwartet, dass sie das mehr oder weniger unauffällig hinnehmen. Ja, gewalttätige Übergriffe von Menschen mit Demenz kommen vor. Und wir sollten darüber reden.
Mein erstes Mal
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Ende der 90er Jahre, nach meiner ersten Ausbildung, absolvierte ich meinen Zivildienst im norddeutschen Malente in einem Pflegeheim. Das war eine tolle Zeit – und ich entdeckte dort mein Interesse an Menschen mit Demenz. Die erste körperliche Begegnung hatte ich auch genau dort. In der Bibliothek des Hauses waren einige der Heimbewohner beschäftigt. Die Tür ging auf, und eine alte Dame mit Gehstock in der einen und einer Gießkanne mit dünnem Ausgießhals in der and Hand kam herein. Sie blickte sich um und begann dann, mit dem Metallhals der Gießkanne in einer Steckdose zu bohren.
Ich sprach die Dame an – die das aber zunächst überhaupt nicht kümmerte. Als ich ihr schließlich eine Hand auf den Arm legte reagierte sie gereizt. Lautstark machte sie klar, dass sie hier sei um Wasser zu holen um die Blumen zu gießen. Meine Erklärungsversuche, dass Wasser prinzipiell nicht aus Steckdosen kommt, prallten an ihr ab. Irgendwann wusste ich mir nicht mehr zu helfen: ich packte das Ende der Gießkanne und hielt es fest. Das empörte sie. Sehr sogar. Und sie hatte einen Gehstock, den sie einzusetzen wusste….
Gekniffen, geschlagen, getreten, gekratzt
Seitdem sind über 20 Jahre vergangen. Und noch manches Mal befand ich mich in einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Menschen mit Demenz und oder Delir. Immer das Gute wollend, oft am Rande meiner Mittel, meines Könnens lies es sich nicht immer vermeiden. Z.B. als es darum ging, einen entlaufenden Patienten daran zu hindern auf eine vielbefahrene Bundesstraße zu laufen oder eine Kollegin aus dem festen Griff des völlig verwirrten Mannes zu befreien.
Um das hier klarzustellen: Menschen mit Demenz sind keine besonders „aggressive Gruppe“; oder anders gesagt: es ist nicht typisch, dass Menschen mit Alzheimer anlasslos durch die Gegend laufen und Jagd auf Gesundheitsmitarbeiter machen. Ich war nur einen Tick öfter in solchen Situationen, weil ich sie jahrelang gesucht habe. Diejenigen zu versorgen, die richtig „schwierig“, „böse“, „nicht pflegbar“ oder „ein Fall für die Psychiatrie“ waren. Das hat mich immer am meisten gereizt. Manchmal gehörte dazu, sich körperlich einzulassen bis jemand verstand, dass ich eben keine Bedrohung für ihn war. Wenn man sich absichtlich in diese Situationen begibt, passiert logischerweise auch mehr.
Gründe, Ziele, Kränkungen
Es wurde und wird viel geschrieben zum Thema Aggression von Menschen mit Demenz. Da kann man viel im Internet finden (Links am Ende des Artikels). Für mich – das ist eine reine persönliche, erfahrungsbasierte Ansicht – lässt sich in der ganz überwiegenden Zahl der Erlebnisse feststellen, dass die Tätlichkeit eigentlich vorhersehbar war. Dass ein Angriff durch einen Menschen mit Demenz ganz überwiegend nicht aus „dem Nichts“ kommt. Vielmehr erklärt – im Nachhinein zumindest – das Setting meist, was passierte. Beispiele finden Sie hier bei Alter und Würde.
Befürchtung: Gewalt nimmt zu in einer zeitlosen Pflege
Die Ursachen von gewalttätigen Übergriffen von Menschen mit Demenz sind vielfältig. Aber es gibt sie, die Ursachen und Auslöser. Und für mich gibt es ebenso die klassischen Fehlreaktionen in Krankenhäusern und Pflegeheimen, die ein hohes Risiko haben die Situation zu eskalieren.
Ein Klassiker: Demenzerkrankungen machen Angst, der Ortswechsel in die Klinik gibt dem ganzen einen Schub. Nun liegt man an einem fremden Ort im Bett, Licht blendet, etwas schmerzt, mehrere Personen machen irgendwas an einem und reden und reden und reden…. . Es war für mich als Demenzbeauftragter im Krankenhaus fast immer eine der ersten Maßnahmen, wenn ich die Pflege selbst übernommen habe und kein akuter medizinischer Bedarf bestand: alle raus! Lasst uns allein!
Gewalt wird weiter zunehmen in der Versorgung von Menschen mit Demenz. Offene und verdeckte. Durch die Betroffenen selbst als Übergriff auf jene, die helfen wollen einerseits. Andererseits wird auch die Gewalt gegen Menschen mit Demenz weiter zunehmen. Aufgrund der unterschiedlichen Position ist sie in der Regel verdeckter, drückt sich nicht in einem Faustschlag oder Kneifen aus normalerweise. Meiner Meinung nach ist auch dies u.a. ein Effekt des Fachkräftemangels und der Arbeitsverdichtung. Wenn ich weiß, wie schnell ein einzelner Patient mit etwas überfordert ist, sein Misstrauen registriere, sein Nichtverstehen – aber dennoch keine Zeit habe, darauf irgendwie Rücksicht zu nehmen weil noch X Aufgaben und Patienten auf mich warten – denen ich ebenfalls nicht gerecht werden kann, sinkt die Schwelle. Auch das bedeutet Fachkräftemangel in der Pflege – eine Zunahme von Gewaltformen gegenüber Patienten mit und ohne Demenz. Wenn geeignete Pflege- und Betreuung geleistet werden soll, braucht das neben spezifischen Kenntnissen eben auch Zeit. Zeit, die der Pflege schon länger hauptsächlich nur noch auf Projektinseln zur Verfügung steht.
Eskalation durchbrechen
Es gibt Bedingungen, die lassen sich nicht durch den Einzelnen ändern. Auf sein eigenes Verhalten, wozu er bereit ist und wozu nicht – darauf hat er Einfluss und auch die Verantwortung. Strukturell fällt mir aber immer wieder auf: es gibt häufig wenig Raum in Einrichtungen, mit Übergriffen gezielt umzugehen. Und das, obwohl es Mitarbeitende gibt denen körperliche Gewalt so fern ist, dass sie regelrecht schockiert von einem Übergriff sind. Übrigens auch dann, wenn er für die „alten Hasen“ kaum der Rede wert ist. Nicht immer wird dann zwischen erfahrenem Pflegeprofi und abgestumpftem Fatalismus unterschieden. Es ist die Verantwortung der Führungsebene, Mitarbeitende aufzufangen und Raum zu schaffen, offen mit den damit verbundenen Gefühlen umzugehen. Nach einem Angriff durch einen Patienten kann und darf man alles sein. Ich war schon erschrocken, wütend, enttäuscht, gekränkt und wasweißichnoch. Egal ob ich, mein Handeln, mein Fehler zu dem Angriff geführt hatten oder ich mich völlig unschuldig wähnte – all diese Gefühle waren da. Und sie mir zuzugestehen war mein wichtigster Schritt um wieder zu einer professionellen, zugewandten Haltung zurückkehren zu können und mich erneut auf den Weg zu machen, eine konstruktive, machbare Lösung zu finden.
Es macht was mit uns – und muss was mit Kliniken und Pflegeheimen machen
Pflege ist keine Einbahnstraße. Pflegende sind und werden persönlich berührt, erschüttert. Das ist weder ein Fehler noch eine Schwäche. Es ist auch nicht unprofessionell. Es ist menschlich, gar nicht zu verhindern.
Unprofessionell sind höchstens jene die Angst vor der Erschütterung ihres Selbstbilds haben, wenn die vermeintliche durch den Verstand gebotene Distanz so plötzlich durch einen aggressiven Patienten unterbrochen wird und dann jedem vorhandenen Impuls unkontrolliert folgen müssen. Pflegende Angehörige finden hier hilfreiche Informationen.
Erlauben wir uns unter KollegInnen, erschüttert und erschrocken zu sein. Und immer wieder neue Wege zu suchen, uns zu stärken und aufzufangen. Eine Kultur des Austauschs darüber was wir erleben einerseits, und wie wir andererseits Strukturen vorhalten die konstruktiv und professionell mit solchen Situationen umgehen ist unbedingt erforderlich. In der in Deutschland etablierten Pflege ohne Zeit müssen Übergriffe von allen Seiten an der Tagesordnung sein. So zu tun als sei das in der Versorgung von Menschen mit Demenz normal und einfach hinzunehmen, führt jede Behauptung in Leitbildern und Stellenanzeigen wie wichtig die Mitarbeitenden im Pflegeheim oder Krankenhaus doch angeblich sind, ad absurdum.
Jochen Gust
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