IQM Demenz steht für Integriertes Qualitäts-Managementsystem Demenz. Ursprünglich aus der kanadischen Langzeitpflege adaptiert, hat es sich über Jahre weiterentwickelt. Was Qualität ist, wird von unterschiedlichen Arbeitsbereichen die in der Versorgung von Menschen mit Demenz eine Rolle spielen häufig unterschiedlich interpretiert. Im Mittelpunkt des Systems steht daher die Frage, was die involvierten Bereiche tun können, um bestmöglich zum Wohlbefinden Betroffener beizutragen.
Dabei sollen nicht nur aktuelle fachliche Erkenntnisse genutzt werden, sondern auch Begutachtungsrichtlinien des MDK und Methoden zur Personal- und Organisationsentwicklung genutzt werden. 2021 ist das Buch (amazon-link) *IQM Demenz in der Altenpflege: Vom Pflegeheim zur demenzfreundlichen Magneteinrichtung bei Springer erschienen. Autor ist Diplompsychologe Martin Hamborg, der viele Jahre auch als Qualitätsmanagementbeauftragter und Supervisor bei den Kieler Servicehäusern der AWO war.
5 Fragen an Martin Hamborg
Jochen Gust: Wie würden Sie die Besonderheiten oder die wesentlichen Änderungen zusammenfassen, die das Integrierte Qualitäts-Managementsystem Demenz für eine Einrichtung mit sich bringt?
Martin Hamborg: Vorab, in unseren Einrichtungen habe ich seinerzeit DIN ISO in 100 Tagen zum Zertifikat geführt, später haben wir nach EFQM gearbeitet. Es war enorm schwierig, den Alltag in die Systeme abzubilden. Bei IQM Demenz ist es anders herum:
Im Auftrag des Familienministeriums haben wir in einer AG der Deutschen Expertengruppe Dementenbetreuung erarbeitet, was für den Menschen mit Demenz im Heim wichtig ist, weil diese nicht mehr lernen können, müssen wir uns durch Milieutherapie anpassen. In 8 führenden Demenzeinrichtungen wurde uns jede Anforderung von Selbstbewertungsteams zurückgemeldet. Gemeinsam entstand aus der Praxis IQM Demenz.
Die Fragen sind konkret und im Erfahrungsaustausch lernt die Einrichtung sich kennen, weil bis zu 80% der Mitarbeitenden einbezogen werden. Dies fördert die Zusammenarbeit zwischen den Bereichen, Leitung und Träger auf Augenhöhe, denn unsere Vorgehen führt zu einem Management, dass nicht Fehler sondern Potenziale aller gefördert.
Aber den größten Wert hat der Austausch der „Moderator*innen“ in den Schulungen reihum in den deren Einrichtungen. Sie stärken sich gegenseitig, übernehmen Highlights und Projekte und inspirieren sich.
Jochen Gust: Sie plädieren in Ihrem Buch u.a. dafür, einen Sinn in einer Demenz zu sehen. Wie hilft diese Betrachtung in Pflege und Betreuung?
Martin Hamborg: Vor 30 Jahren baten mich Kolleg*innen, einen 90jährigen zu besuchen, weil er sich kaum versorgen ließ. Er saß im Feinripphemd auf dem Sofa und las seine Zeitschriften, von rechts nach links und umgekehrt. Ich fragte: Wie geht es Ihnen? Er sagte: Essen und trinken schmeckt, Stuhlgang normal, sonst noch Fragen? Er strahlte eine super Zufriedenheit aus, lebte im Moment und wirkte wie diese Buddhas im Vorgarten.
Im (amazon-link) *Buch habe ich 8 Annäherungen für einen positiven Krankheitsbegriff der schweren Demenz beschrieben. Der Vorteil für uns Profis ist: Wenn wir ein solches Bild vor Augen haben, suchen wir motiviert nach Ursachen des extremen Leidensdrucks, der hinter den Störungen steht: Schmerzen, Traumata, Depressionen, Krankheitssymptome, Delir, Fehler im Umgang, usw. und wir sagen nicht: typisch dement. Seit 2011 mache ich Supervision ich in unserer Gerontopsychiatrie der Uniklinik. Dieser Blickwinkel eröffnet neue Perspektiven. Die Pflegekräfte fühlen sich kompetenter und suchen nach Lösungen und resignieren weniger bei den oft „wahn-sinnigen“ Dauer-Belastungen. Sinn statt Wahnsinn ist die Devise.
IQM Demenz hilft als System, auf allen Ebenen alles „richtig“ zu machen, weil die Richtung stimmt.
Jochen Gust: In Ihrem Buch beschreiben Sie die Schulung von Moderatoren in Einrichtungen für das IQM-Demenz, die abteilungsübergreifende Arbeit in Selbstbewertungsgruppen und Pflichten für Führungskräfte, z.B. im Rahmen der Etablierung von Fallbesprechungen bzw. deren Ablauf und viele weitere Aspekte. Es macht den Eindruck, als sei das IQM-Demenz sehr zeitaufwändig für Einrichtungen. Ist das heute angesichts des frappierenden Personalmangels noch machbar?
Martin Hamborg: Leider ist das der Grund, warum wir seit der Pandemie keine neuen Gruppen angeboten haben. Einrichtungen, die in einem Dauernotstand sind und sich nur durch Zeitarbeit über „Wasser halten“, können sich nicht entwickeln oder entfalten.
Im Gegenteil: Die Angst, unter diesem Druck Pflegefehler zu machen, engt ein, eigene rote Linien werden überschritten und die Krankheits-Stress-Spirale befeuert. Hinzu müssen viele Kontrollen von außen und Renditen bedient werden. Da ist kein Platz für die wöchentlichen 1 ½ Stunden der Selbstbewertungsteams, die 15 Schulungstage für 2 Personen in zwei Jahren, Beratungstage das Qualitätsfeedback. Wir haben es schon absolut komprimiert und kostengünstig gestaltet, wir sind Praktiker. Im Buch habe ich Theorie, Beispiele und jahrzehntelange Erfahrungen ergänzt, die Heime haben mit Wasser gekocht. Wollen sich Einrichtungen aus dem Teufelskreis lösen, sehe ich kein besseres System in dem sich Fehlzeiten veringern, Mitarbeitende und Leitungen über sich hinauswachsen und die Arbeit inspiriert und Spaß macht.
Sie könnten IQM Demenz erproben, am Beispiel des Expertenstandard Demenz mit all seinen visionären Anforderungen. Das Buch gibt eine Handlungsanleitung.
Jochen Gust: Es existiert kein einheitlich oder feststehender Begriff, was Qualität in der Versorgung von Menschen mit Demenz ist. „Demenzsensibel“, „demenzfreundlich“ – eine große Zahl von Einrichtungen oder Stationen sagt das über sich selbst. Menschen mit Demenz leben heute in vielen Wohnformen und in praktisch jedem Pflegeheim. Wann sagt Martin Hamborg: „Hier sind Menschen mit Demenz gut untergebracht.“?
Martin Hamborg: Ganz einfach dann, wenn sich jeder Mensch mit Demenz als Freund wahrgenommen fühlt. Damit profitieren auch die Menschen, die (noch) nicht dement sind. Deshalb liebe ich den Begriff demenzfreundlich. In einem Praxistipp zeige ich, wie wir mit einer Übung nicht nur freundlich sein wollen, sondern wie unsere Haltung auch so ankommt. Unsere Auszubildenden hatten echte Aha-Erlebnisse.
Inspiriert von der Hirnforschung habe ich Methoden gefunden, die Haltung entwickeln. Darauf kommt es an. Daraus ergeben sich räumliche und organisatorische Verbesserungen, die Stress reduzieren, Fehler vermeiden und positive Begegnungen stärken. Der Demenzstandard fordert eine Anerkennungskultur, denn demenzfreundlich geht besser, wenn Team und Leitungen untereinander die gleiche Haltung zeigen. In meinen Teamentwicklungen übe ich professionelle gute Laune. Es ist für einige ganz schön schwer, der Jammerkultur zu entkommen…
Große Erwartungen – zu wenig Geld
Jochen Gust: Sowohl in der häuslichen Versorgung als auch in Einrichtungen: die schiere Zahl der zu erwartenden Menschen mit Demenz bei gleichzeitig zu geringem Fachkräfteaufwuchs wird wahrscheinlich früher oder später dazu führen müssen, dass Hilfs- und Assistenzkräfte mehr Aufgaben übernehmen, vielleicht sogar mehr oder minder in Eigenregie. Was sind aus Ihrer Sicht zentrale Bedingungen für Einrichtungen, ihren Mitarbeiterstamm an Fachleuten zu halten und neue Pflegefachleute erfolgreich an sich zu binden und schadet eine hohe Fluktuation von Mitarbeitenden der Qualität?
Martin Hamborg: Wir müssen umdenken: Skandinavien gibt das Doppelte für die Pflege wie Deutschland. Es gibt keine Erwartungen an Angehörige. Griechenland braucht halb so viel wie wir, weil dort die Familie Vorrang hat. Bei uns: Vollkaskoanspruch bei Teilkaskofinanzierung und riesigen Erwartungen. Der Weg, alles im Heim lösen zu wollen, kann nicht gehen, schon gar nicht im Teufelskreis der Pflegenot. Es bleibt bestenfalls Schadensbegrenzung. Heime müssen sich öffnen. Ein Beispiel:
In einem IQM-Qualitätsfeedback sprach ich mit der Ehrenamtskoordinatorin. Sie hatte 120 Ehrenamtliche für 60 Menschen mit Demenz und halbe Schulklassen bewarben sich für das Schulpraktikum, nur 2 durften. Auf meine Frage, wie sie das schaffe, sagte sie: Ich bin Holländerin, bei uns ist das so. Diese Haltung hat mich beeindruckt.
Mit IQM Demenz fördern wir sozialräumliche Entwicklung, Ehrenamt und Angehörigenengagement genauso wie die wertschätzende Einbindung von geringer Qualifizierten. Das ist die eine Seite der Medaille, die andere ist konsequente Professionalisierung und Kompetenzentwicklung und endlich öffentliches Vertrauen anstelle des Misstrauensprinzips mit irrsinnigen bürokratischen Kontrollen.
Jochen Gust: Ich danke Martin Hamborg für seine Antworten.
Das Integrierte Qualitäts-Managementsystem Demenz ist nicht darauf ausgerichtet, bisher erfolgreich angewandte Handlungskonzepte zu verdrängen. Vielmehr soll es den Grad der Umsetzung unterstützen und reflektieren, um zu sinnvollen Verbesserungen und Anpassungen zu gelangen. Martin Hamborg ist freiberuflich als Moderator, Referent, Coach und Supervisor tätig. Kontakt zu ihm kann über die Homepage IQM-Demenz aufgenommen werden.
Foto: Martin Hamborg; selbst
Titelbild: Anna Shvets on pexels
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