Laut statistischem Bundesamt hatten im Jahr 2022 etwa 23,8 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Dass wir als Gesellschaft altern ist nicht neu und auch nicht, dass Themen wie Pflegebedürftigkeit und Demenz in allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten ankommen. So gibt es Informationsmaterialien in den verschiedenen Sprachen zum Thema Demenz, z.B. hier. Und auch Beratungs- und Schulungsangebote ermöglichen den Zugang und sollen Familien mit Betroffenen erreichen.
Kürzlich hatte ich im Auftrag einen kurzen Gastauftritt in Hamm im Rahmen eines Projektes. Organisiert von Meryem Öztop von der Stadt Hamm und Aynur Ergül, die mit viel Elan nicht nur übersetzte, sondern viel Schwung und Atmosphäre mit in die Veranstaltung brachte.
3 Fragen an Meryem Öztop
Jochen Gust: Frau Öztop, mein Gastauftritt in Hamm fand im Rahmen eines Qualifizierungskurses statt für die ehrenamtliche oder berufliche Begleitung von Senioren bzw. Menschen mit Demenz statt. Gibt es, abgesehen von der Sprachbarriere, noch anderen Gründe eigene Kurse und Qualifizierungsangebote zu machen die sich speziell an Menschen mit Migrationshintergrund richten?
Meryem Öztop: Weitere Gründe neben der Sprachbarriere für eigene Kurse sind z.B. der Abbau von Hemmungen und Diskriminierungserfahrungen, Selbstsicherheit stärken sowie der Möglichkeit der kultursensiblen Ausrichtung der Kurse durch zB. durch Zeitanpassung, kultursensible Brille bei Themen wie z.B: Demenz, Aktivierung von Älteren (da es in zB. muslimischen Familien üblich ist, Ältere oder Kranke zu ver-/ umsorgen und man den Menschen alles abnimmt).
Auch die Wertschätzung DURCH Qualifizierungsangebote, da die Frauen mit Migrationsgeschichte oft schon sehr lange Jahre in der eigenen Community ehrenamtlich aktiv sind. Ausserdem haben Frauen mit Migrationsgeschichte oft andere Bedarfe und somit andere Themenschwerpunkten (Wer bin ich? Was kann ich? Weg von alten Rollenmustern). Zu beachten ist auch, dass sich die alte Rollenverteilungen im System Familie ändert. Ältere Menschen mit
Migrationsgeschichte sind zunehmend nicht mehr in den Kreisen der Familie versorgt, d.h. es müssen neue Strukturen geschaffen werden, um hilfe -und pflegebedürftige Menschen auffangen zu können. Und ganz wichtig: bereits bestehende Angebote, die immer noch nicht von der Mehrheit der Menschen mit Migrationsgeschichte wahrgenommen werden, sollen bekannt werden und nutzbar sein für alle. Durch die qualifizierten Frauen findet oftmals schon ein erster Ansatz zum Wissenstransfer statt im eigenen Umfeld statt und Bedarfe können ermittelt und angegangen werden.
Jochen Gust: Am Rande der Veranstaltung wurde auch erwähnt, dass sich z.B. bei türkischen jungen Frauen in Deutschland auch die Familienstruktur geändert hat und weiter verändert. Sie seien weniger bereit als früher, ihr eigenes Leben komplett auf die Familie – d.h. im Zweifel auch auf die Pflege und Betreuung von Angehörigen – auszurichten. Was bedeutet diese Entwicklung, gerade im Hinblick auf die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger?
Meryem Öztop: Es wird in den nächsten Jahren eine Welle von demenziell erkrankten Menschen (mit Migrationshintergrund) geben und auch pflegende Angehörige die sich mit der Situation sehr belastet und gefordert fühlen. Um nachhaltige Strukturen schaffen und dies auffangen zu können, ist es wichtig Menschen aus der Community für die Community zu informieren, zu qualifizieren und zu sensibilisieren sowie entsprechende Hilfsangebote bekannter zu machen.
Jochen Gust: Ein Dauerthema ist der Fachkräftemangel. Es fehlen tausende Mitarbeitende, auch in Pflege und Betreuung. Zugleich gibt es immer wieder Berichte – in der Presse und auch in der persönlichen Begegnung, dass Menschen die aus anderen Ländern hierherkommen um in der Pflege zu arbeiten, wieder abspringen, aussteigen nach relativ kurzer Zeit. Das sogenannte „onboarding“ klappt offenbar zu oft nicht. Können Sie das aus Ihrer Arbeit heraus bestätigen – und sagen, was da oft schiefläuft?
Meryem Öztop: Ich denke, dass gerade Frauen mit Migrationsgeschichte eine hohe Motivation und Bereitschaft zeigen, sich in Bereichen der Pflege oder Betreuung / Unterstützung von älterwerdenden Menschen einzusetzen. Ich wünschte mir hier mehr berufliche Perspektiven und Möglichkeiten diese hoch motivierten Frauen, auch wenn sie aufgrund persönlicher Lebensumstände (z.B. Tätigkeit als Hausfrau und Mutter) nicht immer den vorausgesetzten Bildungsabschluss mitbringen. So könnten Frauen mit Migrationsgeschichte durch gezieltere Förderung einen Beitrag zur Überwindung des Fachkräftemangels leisten und auch perspektivisch ihre wirtschaftliche Grundlage verbessern.
Letztendlich bin ich davon überzeugt, dass durch die berufliche Integration auch die gesellschaftliche Integration und gegenseitige Anerkennung sowie Respekt gestärkt werden könnten.
Jochen Gust: vielen Dank für Ihre Antworten.
Titelbild: Christina Morillo on pexels
M. Öztop mit freundl. Genehigung von Fr. Öztop
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