Vielfalt gehört zur Pflege längst dazu. Ohne Kolleginnen und Kollegen mit Wurzeln in anderen Ländern sähe es übel aus in der pflegerischen Versorgung, gleich welcher Art und Abteilung. Und Menschen mit Migrationshintergrund werden auch hier alt, pflegebedürftig – und auch dement.
Kultursensible Pflege kann Pflegefachpersonen ein großes Maß an Verständnis von kulturellen Gepflogenheiten abverlangen und erfordert viel soziale Kompetenz. Kommt eine Demenz hinzu, können zusätzliche Schwierigkeiten entstehen. Menschen mit Einwanderergeschichte machten und machen vielfach Diskriminierungserfahrungen. Auch kann die Sichtweise auf professionelle Pflege und was sie leistet eine andere sein, als wir sie gewohnt sind.
Plötzlich nur noch russisch
Der Mann war aufgebracht, als er auf der Trage zur Inneren gebracht wurde. Und nicht zu beruhigen. Lediglich den Namen bekam man heraus. Verwirrt und hilflos sprach er jeden an, der sich ihm auf Rufweite näherte. Obwohl seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebend, war er der Sprache nicht mehr mächtig. Seine Demenz erlaubte es ihm nur noch, in seiner Muttersprache zu sprechen. So konnten weder Pflegefachpersonen noch die anwesenden Ärzte verstehen, was er mitteilen wollte. Er lies sich nur schwer beruhigen, Angehörige waren nicht erreichbar. Alle fühlten sich hilflos. Schließlich entschied man, ihm Beruhigungsmittel zu geben da sein hilfloses Rufen in aggressives Schreien übergegangen war.
Hätten die Mitarbeitenden in dieser Situation in dieser Klinik etwas anderes tun können? Meine Antwort: nein. Das lies die personelle Situation gar nicht zu, denn der Herr war nicht der einzige Patient, auch nicht der einzige mit Demenz und die Station ohnehin überlastet.
Kultursensibel Pflegen – 3 Fragen an Johanna Grünhagen
Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz – das bringt Besonderheiten mit sich. Johanna Grünhagen ist Expertin für interkulturelle Pflege und bietet entsprechende Trainings an.
Jochen Gust: Frau Grünhagen, wenn eine Demenz zur Pflegebedürftigkeit hinzukommt oder diese wesentlich ausmacht, stehen damit verbundene Verhaltensweisen häufig im Vordergrund. Wie unterscheidet sich die Versorgung von Menschen mit Demenz mit und ohne Migrationshintergrund?
Johanna Grünhagen: Eigentlich unterscheidet sich die Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund, oder Mehrheimischen gar nicht so sehr von Einheimischen. Es braucht bei allen Geduld, Zuwendung und Einfühlungsvermögen. Allerdings ist der letzte Punkt in einem besonders hohen Maß gefragt, wenn z.B. eine deutsche Pflegekraft für eine mehrheimische Patientin verantwortlich ist. Bei gleichkultureller Herkunft kann man mehr Gemeinsamkeiten als selbstverständlich voraussetzen, wie Sprache, Musik und Essen – die drei wichtigsten Elemente einer Kultur und bei dementen Menschen DER Schlüssel zur Kontaktaufnahme. Die deutsche Pflegekraft kann hier nicht sofort auf Bekanntes zurückgreifen, sondern muss ermitteln, welche Sprache, Musik und welches Essen für die Patientin vertraut und bedeutsam sind, um zu ihr vordringen zu können. Hierzu ist natürlich das Gespräch mit den Angehörigen von höchster Wichtigkeit. Aber auch individuelle Vorlieben müssen beachtet werden, die bei mehrheimischen Menschen manchmal übersehen werden, obwohl ja auch nicht alle Deutschen Eisbein mit Sauerkraut mögen…
Trotzdem gibt es natürlich Unterschiede in der Pflege zwischen mehr- und einheimischen Patienten. Hier die 3 wichtigsten im Überblick:
- Waschungen
In den meisten muslimischen und asiatischen Kulturen, müssen Waschungen immer in fließendem Wasser vorgenommen werden! Gerade für Menschen mit Demenz ist dieses Vorgehen besonders wichtig, weil sie es wahrscheinlich als Kinder so gelernt und verinnerlicht haben.
Mein Tipp:
Falls Sie eine bettlägerige Patientin haben, arbeiten sie mit zwei Waschschüsseln, damit Sie nicht immer wieder mit dem Waschlappen das „verunreinigte“ Wasser benutzen.
- Das Verständnis von Krankheit
Krankheit wird in Deutschland gemeinhin als etwas Biomedizinisches verstanden, das durch organische Fehlfunktionen erklärt werden kann. Ihnen kann als Pflegekraft aber auch ein mythologisches Verständnis von Krankheit als „Strafe oder Prüfung Gottes“ begegnen. Dies hat möglicherweise negative Folgen für das Verhalten von Patient*in und Angehörigen bei Medikation und Therapieansätzen.
Mein Tipp:
Holen Sie sich Unterstützung von „Autoritäten“ aus der jeweiligen Kultur der/des Patient*in, z.B. einen Imam oder sonstige Kulturvermittler, z.B. in Kulturvereinen.
- Das Verständnis von Alter und Pflege
In vielen Kulturen steigt der Wert eines Menschen, je älter er wird und damit sinkt gleichzeitig auch oft seine Verpflichtung zur Selbstständigkeit. Das heißt, es kann Ihnen begegnen, dass ein alter Mensch aus einer anderen Kultur komplett umsorgt wird und die Verantwortung für seinen Zustand abgeben kann, weil er bereits “in seinem Leben genug geleistet“ hat. Gerade bei dem Ansatz der aktivierend-therapeutischen-Pflege kann das zu Mißverständnissen und Konflikten führen.
Mein Tipp:
Erläutern Sie die Hintergründe von Selbstwirksamkeit im Alter. Oft fehlt- wie umgekehrt auch – einfach nur das Verständnis für die Sinnhaftigkeit anderer kultureller Praktiken.
Ein Tipp noch generell: Wenn Ihnen ein fremdartiges Verhalten begegnet, urteilen Sie nicht sofort, sondern fragen Sie nach dem Sinn, denn hinter jedem Verhalten steckt ein Sinn. Wir können ihn bloß nicht immer sofort erkennen.
Jochen Gust: Was trainieren Pflegefachleute bei Ihnen konkret, um kultursensibel arbeiten zu können?
Johanna Grünhagen: Wie der Name schon sagt: Ihre kulturelle Sensibiliät – d.h. sich Gedanken über die unterschiedlichen Biografien und Bedürfnisse von mehrheimischen Menschen machen und auch darüber, wie man diese im Pflegealltag berücksichtigen kann.
Letztendlich können die TN dadurch auch für sich mehr Zufriedenheit in ihrer Arbeit generieren, denn das ist ja ein wichtiger Grund, weshalb Pflegekräfte in die Pflege gegangen sind: Um Menschen zu unterstützen, die Unterstützung und Zuwendung benötigen. Und je besser ich den (kulturellen) Hintergrund meiner Patient*innen kenne, desto besser kann ich versorgen.
Jochen Gust: Ich beobachte einen gewissen Wandel, etwas mehr Bewusstsein für die Problematik, in den vergangenen Jahren. Sind Sie der Auffassung, dass im Rahmen der pflegerischen Ausbildung genug Wert auf Aspekte der interkulturellen Pflege gelegt wird?
Johanna Grünhagen: Diesen Wandel beobachte ich auch, nicht zuletzt bin ich als Dozentin für interkulturelle Kompetenz in die Pflege gekommen, weil hier als eine der ersten Stellen in der Gesellschaft die Notwendigkeit gesehen wurde.
Es darf hier aber auch m.E. nach sehr gerne noch mehr Aufmerksamkeit auf das Thema gelegt werden. Denn kultursensible Pflege, bzw. interkulturelle Kompetenz in der Pflege ist nicht nur für einzelne Patient*innen von großer Bedeutung, sondern findet sich genauso in multikulturellen Teams und in der Integration von neu-rekrutierten Pflegekräften aus dem Ausland wieder.
Und ganz wichtig: Durch den (sensiblen!) Umgang mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen entsteht ein wunderbares Mehr an Möglichkeiten für eine gute Versorgung und Zusammenarbeit für alle Beteiligten!
Ich danke Johanna Grünhagen für Ihre Zeit und Antworten.
Jochen Gust
Sehr interessant, darüber habe ich trotz meiner an Demenz erkrankten Eltern noch nicht richtig nachgedacht, denn es stellt einen ja schon so vor große Herausforderungen. Da werde ich beim nächsten Heimbesuch versuchen die Tipps umzusetzen bzw. weiterzuleiten. Schön, dass es Leute wie Johanna Grünhagen gibt, es uns durch ihre Arbeit erleichtert unsere Mitmenschen zu verstehen und somit näher bringt.