
Trotz hoher Gesundheitsausgaben droht Deutschland eine erhebliche Unterversorgung. Seit 1990 stieg die Zahl der Ärzte von 238.000 auf 429.000, doch die Anzahl der Hausärzte blieb nahezu unverändert. Ein Drittel der Allgemeinmediziner geht in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand, was die Situation verschärft. In der Pflege droht der Mangel an Fachpersonen stark zuzunehmen.
Eine umfassende Analyse struktureller Probleme im deutschen Gesundheitssystem mit besonderem Fokus auf die zunehmende Unterversorgung warnt vor dramatischen Zuständen: „Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen – das unterschätzte Problem“.
Pflege wird es besonders treffen – unter den Pflegebedürftigen sind Menschen mit Demenz besonders vulnerabel
- 300.000 Pflegekräfte fehlen schon heute, bis 2034 gehen weitere 250.000 in Rente.
- Pflegeeinrichtungen schließen oder belegen Pflegeplätze nicht, weil sie keine Fachkräfte mehr finden und die vorhandenen nicht überlastet werden dürfen. Das kann im Einzelfall bedeuten, dass Menschen mit Demenz mit großen Verhaltensaufforderungen bei der Auswahl benachteiligt werden.
- Angehörige pflegen und betreuen in großem Umfang, stoßen aber oft an ihre Grenzen – gerade bei fortgeschrittenen Stadien einer Demenz.

Für Menschen mit Demenz ist Unterversorgung besonders gravierend. Denn ihre Versorgung ist nicht nur eine Frage von Medikamenten oder Diagnosen – sondern von Zuwendung, Struktur und Orientierung. Drei Faktoren verschärfen die Lage:
Zugangsprobleme
o Haus- und Fachärzte sind schwer häufig überlastet und schwer erreichbar, vor allem auf dem Land. Fachärztliche Visiten in stationären Pflegeeinrichtungen sind die absolute Ausnahme.
o Wartezeiten auf Termine sind für gesetzlich Versicherte oft unzumutbar, für Menschen mit Demenz sind die Wartezeiten in Wartezimmern häufig eine zusätzliche Herausforderung: mangels zeitlicher Orientierung kann es zu Unruhezuständen kommen – Dienste und Angehörige müssen wesentliche Zeit für die Begleitung und Betreuung einplanen.
Komplexität des Systems
o Die Navigation durch das Gesundheitssystem ist selbst für Gesunde schwer, für Menschen mit kognitiven Einschränkungen wird es nahezu unmöglich, Leistungen zu finden oder zu verstehen. Angehörigen werden oft zu inoffiziellen Pflegekoordinatorinnen – das bindet Zeit und Kraft und benötigt weitere professionelle Unterstützung in vielen Fällen.
Fehlversorgung statt Fürsorge
o Standardisierte Abläufe, Zeitdruck und eine Misstrauenskultur die viel Dokumentation abfordert, verdrängen die menschliche Begegnung.
o In der Pflege und besonders in Sachen Demenz findet – politisch akzeptiert – eine „Verlaiung“ der Versorgung statt. Die Anforderungen an der Versorgung von Menschen mit Demenz werden stetig abgesenkt in dem Hilfsberufe geschaffen werden, die unterstützen sollen. Das entlastet Angehörige, und sorgt auch insgesamt sicher für mehr Unterhaltung und Teilhabe von Menschen mit Demenz.
So weit, so gut?
Ja, schon. In der Realität übernehmen allerdings oft genug pflegerische Laien Aufgaben für die sie nicht ausgebildet sind, werden von der Versichertengemeinschaft finanzierte Betreuungskräfte zu Putzkräften degradiert – und zwar nicht immer ausschließlich für die Wohnräume der Pflegebedürftigen. In der Folge dieser „Verlaiung“ der Versorgung, haben Pflegefachpersonen gerade im ambulanten Bereich nur noch punktuell mit Menschen mit Demenz zu tun, sind aufs Medikamentegeben oder die Wundversorgung reduziert. Das bedeutet: Menschen mit Demenz, gerade im fortgeschrittenen Stadium, können nur hoffen, dass Symptome z.B. für eine Infektion oder eine Dysphagie rechtzeitig – „zufällig“ – erkannt werden. Präventiv kann gezielt kaum noch gearbeitet werden. Das System „spart“ Zeit, denn Zeit ist Geld. Natürlich nur, um später ein Vielfaches für die Folgen fehlender pflegefachlicher Intervention auszugeben.
Regionale Ungleichheit: Pflege nach Postleitzahl
Ob ein Pflegeplatz verfügbar ist, hängt zunehmend vom Wohnort ab. In einigen ostdeutschen Landkreisen ist fast jede fünfte versicherte Person pflegebedürftig – doch gerade dort fehlt es an Pflegeplätzen und Fachpersonal. Lange Wartelisten, Ablehnungen und überlastete Krankenhäuser sind die Folge. Für Menschen mit Demenz zeigte schon der Pflegereport 2023 die enormen regionalen Unterschiede auf.
Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen – das unterschätzte Problem
Die Autoren der Analyse, Prof. Dr. med. Matthias Schrappe / Hedwig François-Kettner / Franz Knieps / Univ.-Prof. Dr. Klaus Kraemer / Hartmut Reiners / Prof. Dr. med. Martin Scherer / Dr. med. Thomas Voshaar / Prof. Dr. Jürgen Windeler legen mit ihrem Papier die Finger in die Wunden des deutschen Gesundheitsystems. Unterversorgung ist kein Randphänomen – sie ist ein strukturelles Problem. Und sie trifft diejenigen am härtesten, die sich am wenigsten wehren können.
Das Papier jedenfalls ist lesenswert – nicht nur für Gesundheitsprofis.
Jochen Gust