Verwirrende Blindheit

Die Sehkraft lässt mit dem Alter nach – ein natürlicher Prozess, der jedoch bei Menschen mit Demenz eine besondere Herausforderung darstellt. Denn wie bei vielen anderen Beeinträchtigungen auch, stehen Betroffene im hohen Risiko, dass Hinweisen nicht nachgegangen wird oder resultierende Probleme der Demenz zugeschrieben werden.

Zuhause gestoßen, im Krankenhaus durstig

Szene 1: ich bin auf bitten der pflegenden Tochter in der Wohnung bei einer Dame; Diagnose Demenz vor 3 Jahren, sehr mobil. Sie reagiert erfreut auf meinen Besuch, wir trinken gemeinsam mit ihrer Tochter Kaffee. Schließlich bitte ich die Dame, mir ihre Wohnung zu zeigen. Mit etwas Mühe kommt sie aus ihrem tiefen Sessel heraus. Sie läuft los, stößt sich dabei unterhalb des Knies gegen den niedrigen Wohnzimmertisch, rückt ihre Brille zurecht. Der Tisch sei neu, informiert sie mich lächelnd – was ihre Tochter mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert. Sie ignoriert das und bittet mich, ihr zu folgen. Sie streift dann den Türrahmen entlang und greift tastend zur Türklinke des nächsten Raumes…..


Szene 2: im Krankenhaus besuche ich auf Wunsch der Angehörigen einen Herrn. Ich finde ihn halb bekleidet in seinem Bett vor. Halb aufgerichtet sitzt er da, vor ihm die Tischplatte des aufklappbaren Nachttischs. Er erwidert nichts, als ich ihn begrüße und zeigt auch sonst kaum eine Reaktion auf Ansprache. Ich fordere ihn schließlich auf, etwas zu trinken. Auf der Tischplatte die er fast direkt vor der Brust hat, steht ein Schnabelbecher mit Strohhalm. Sieht so aus, als befindet sich noch der Kaffee vom Frühstück darin. Der Mann tastet schließlich die Kante der Klapptischplatte entlang, bis seine Fingerspitzen den Becher finden. Er greift ihn und stößt sich den Strohhalm mehrmals beim Versuch zu trinken ins Gesicht, bis der Strohhalm schließlich im Mund landet….

Typische Sehprobleme im Alter

Mit dem Alter kommen verschiedene Augenprobleme auf uns zu, die oft schleichend auftreten. Die häufigste dieser Beschwerden ist die Altersweitsichtigkeit, bei der es zunehmend schwerfällt, nahe Objekte klar zu sehen. Später wird das Tragen einer Sehhilfe unverzichtbar. Weitere typische Sehprobleme, die ältere Menschen betreffen, sind z.B. Grauer Star (Katarakt), Makuladegeneration, Nachtblindheit und andere.

Sehkraft und ihre Auswirkungen auf Menschen mit Demenz

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, sämtliche Auswirkungen nachlassender Sehkraft auf die Betroffenen aufzuzählen. Hinzu kommt – und da sind wir bei den tatsächlichen Auswirkungen einer Demenz, dass es zu mehr und mehr Schwierigkeiten kommt zu interpretieren, was gesehen wird.

Studien zeigen, dass Menschen mit eingeschränkter Sehkraft ein 2- bis 5-mal höheres Risiko haben, eine Demenz zu entwickeln. Darüber hinaus steigt die Gefahr für Stürze, Knochenbrüche und Gebrechlichkeit und allgemein steigt das Risiko von Abhängigkeit und der Pflege- und Unterstützungsbedarf. Eine abnehmende Sehkraft kann zuudem dazu führen, dass sich Menschen mit Demenz zurückziehen, da sie sich unsicher fühlen und weniger an Aktivitäten teilnehmen können, die sie früher gerne gemacht haben.

Auffälligkeiten sehen – und reagieren

Für den Erhalt der Lebensqualität, Teilhabe und Selbständigkeit ist es wichtig, dass Hinweisen auf nachlassende Sehkraft nachgegangen wird. Allzuoft werden Auffälligkeiten der Demenz oder einem öminösen „Demenzschub“ zugeschrieben. Bei Menschen ohne Demenz würden die Probleme nicht in dieser Weise vom Tisch gewischt. Der große Nachteil für die Betroffenen ist auch hier wiederum, dass sie im Verlauf nicht auf ihre Probleme verbal hinweisen können.

Professionelle Pflege darf nicht jedes Geschehen, jede Auffälligkeit der Diagnose Demenz zuschreiben und muss aktiv Maßnahmen ergreifen, wenn andere Ursachen und gesundheitliche Probleme in Frage kommen. Der nächste Schritt, jemanden mit fortgeschrittener Demenz angemessen fachärztlich zu versorgen bzw. dies zu organisieren, ist häufig ein großes Hindernis. Manchmal faktisch unmöglich, trotz aller Beteuerungen seitens Fachgesellschaften und Verbänden oder Kostenträgern.
Das darf professionelle Pflege aber nicht dazu verführen, es im quasi vorauseilenden Fatalismus gar nicht erst zu versuchen.

Jochen Gust

Titelfoto: on pexels by Michael Morse

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