Stambulante Pflege – Kritik und offene Fragen

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plant eine Art Hybrid aus ambulanter und stationärer Pflege. „Stambulante Pflege“ soll nach seinen Plänen eine Art dritten Weg in der Versorgung Pflegebedürftiger werden. Die Frage ist: warum?

Noch in diesem Jahr, vor dem Sommer, möchte der Bundesgesundheitsminister ein entsprechendes Gesetz vorlegen. Damit würde diese neue Versorgungsform Teil der Regelversorgung werden können. Bislang gibt es vor allem eines: Unklarheiten.

Minister Lauterbach hat in der Vergangenheit erläutert, dass die stambulante Versorgungsform für Menschen gedacht sei, die noch zu fit fürs Pflegeheim sind – aber auch nicht mehr in ihrer Wohnung bleiben können. Stambulante Pflege soll daher eine -Rund-um-die-Uhr-Versorgung sicherstellen in dafür bestimmten Räumlichkeiten. Klingt als Konzept noch nicht direkt neu. Ökonomisch sinnvoll sei das auch – denn Pflegeheimbetreiber könnten sich mit ambulanten Diensten zusammentun. Heißt das im Endeffekt, dass Personalmangel in der stationären Altenpflege durch das hinzuziehen bzw. die klassische Zusammenarbeit mit ambulanten Pflegediensten abgefangen werden soll (und umgekehrt)?

Die Ruhrgebietskonferenz Pflege ist eine 2018 gegründete Arbeitgeberinitiative, die verbands- und trägerübergreifend 28 Pflegeunternehmen mit mehr als 15.000 Mitarbeitenden repräsentiert. Roland Weigel von Konkret Consult Ruhr GmbH aus Gelsenkirchen ist Koordinator für Organisation und Kommunikation bei der Initiative.

Jochen Gust: Herr Weigel, egal wo ich wohne oder wie ich lebe – Pflege und Betreuung kommen modular dazu. Ist das nicht ein toller Grundgedanke der „stambulanten Pflege“ des Bundesgesundheitsministers?

Roland Weigel: Jede Idee, die hilft, die Versäulung der Leistungsbereiche durchlässiger zu machen ist zu begrüßen. Sektorenübergreifende Gesamtversorgung diskutieren wir ja schon seit 10 Jahren und an der Sinnhaftigkeit dieses Ansatzes gibt es aus meiner Sicht keinen Zweifel. Fragen Sie aber mal die Akteure, die sich auf den Weg gemacht haben, nach ihren Erfahrungen. Alle können ihnen von einem jahrelangen Verhandlungsmarathon berichten, der extrem viele Ressourcen gebunden hat. Wir brauchen stattdessen einen radikalen Schnitt, der keine neuen Sektoren bringt, sondern die vorhandenen Leistungsbereiche zusammenführt. Der Vorschlag aus dem BMG will aber keine grundlegende Reform sondern dem sowieso schon überkomplexen System einen Sektor hinzufügen.

Jochen Gust: Bisher gibt es unter den ambulanten Wohnformen Modellprojekte, aber auch etablierte Formen – z.B. Wohngemeinschaften. Ist für Sie klar erkennbar, wie sich „stambulante Pflege“ hier einfügt – bzw. abgrenzt?

Roland Weigel: Das ist ja genau unsere Kritik an dem Ansatz. Es wäre ja zu begrüßen, wenn wir in allen Bundesländern ambulant betreute Wohngemeinschaften oder sektorenübergreifende Gesamtversorgungverträge hätten. Das BMG streut hier der Öffentlichkeit Sand in die Augen.

Roland Weigel

Jochen Gust: Könnte das Interesse der Politik hinter dieser Versorgungsform letztlich nicht eine Flexibilisierung der Zusammenarbeit zwischen ambulanten Pflegediensten und stationären Anbietern sein, um auf den Fachkräftemangel reagieren zu können? Auch die Arbeitskraft der Nutzer selbst sowie ihrer Angehörigen soll möglicherweise eingebunden werden – auch das vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels?

Roland Weigel: Die ewige Abgrenzung von Personal und Sachmitteln zwischen den Leistungsbereichen ist doch schon lange einer der ärgerlichen Hemmschuhe bei der Entwicklung von neuen und flexiblen Versorgungsformen. Es ist vollkommen richtig über mehr Flexibilität und die Einbindung der familiären sowie zivilgesellschaftlichen Ressourcen nachzudenken. Das ist auch nicht unsere Kritik. Wir halten aber den Ansatz der Entwicklung eines zusätzlichen Sektors für grundlegend falsch. Das führt nämlich wieder nur zu ewig langen Abstimmungs- und Abgrenzungsprozessen. Dafür haben wir keine Zeit.

Jochen Gust: Ich bedanke mich für Ihre Antworten.

Die Ruhrgebietskonferenz Pflege hat am 18.04.2024 eine umfangreiche Stellungnahme zu den offenen Fragen der stambulanten Pflege veröffentlicht. Sie können sie hier nachlesen.

Titelfoto Jsme Mila on pexels

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Jochen Gust

Pflegefachperson, Projektmitarbeiter, Demenzbeauftrager im Krankenhaus, Autor, Moderator, Dozent

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