Menschen mit Demenz sind einem besonderen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt. Symptome werden zu spät als solche Identifiziert, Diagnose und Behandlung setzen später an – oder auch gar nicht.
„Wegen der Demenz.“. Wirklich?
Es geschieht immer wieder: Symptome werden dem Verlauf der Demenz zugeschrieben und andere gesundheitliche Probleme übersehen. Nachvollziehbar ist das, wenn und weil viele Fähigkeiten von Menschen mit Demenz nach und nach zurückgehen. Auch die, sich in üblicher Weise mitzuteilen. Wortfindungsstörungen bis hin zum völligen Verlust der verbalen Ausdrucksfähigkeit – so weit, so bekannt.
Aber auch Verhaltensänderungen werden allzu schnell der Demenz zugeschrieben, ohne näher hinzusehen. Was beim Thema Delir zunehmend zumindest in Krankenhäusern ins Bewusstsein rückt, ist vielerorts noch kein Thema. Ein Grund ist, dass beim Thema Demenz sehr viele Schulungen angeboten werden die sich rein auf Themenkreise der psychosozialen Befindlichkeiten konzentrieren. Aktivierung und Beschäftigung und jede Menge gute Absichten, den Betroffenen „Gutes zu tun“. Das gilt auch für den Umgang mit herausforderndem Verhalten. Ziel und Erwartung ist häufig, Betroffene zu verstehen. Und zwar in inneren (seelische, emotionalen etc.) Vorgängen zu verstehen.
Ein typisches Beispiel: der 81jährige Mann mit Demenz der nach seiner Mutter ruft, sehnt sich nach Geborgenheit, fühlt sich unsicher, verloren, hat Angst etc. – das ist mittlerweile zur Standardannahme geraten: Mama bedeutet Schutz, Geborgenheit, Sicherheit. Mal abgesehen davon, dass solche Kurz-Schlüsse sicher nicht jeder individuellen Betrachtung standhalten, sehe ich selten in Büchern, Artikeln oder Vorträgen die körperliche Komponente. Wenn schon, war Mama auch die erste die gepustet hat, wenn`s weh tat, oder? Mama zuvorderst hat in der Regel ihr Kind betüddelt, wenn es krank war. Also: Schmerzen, eine Infektion vielleicht? Zu oft kein Thema.
Menschen mit Demenz haben Körper
Um einem Missverständnis vorzubeugen: es geht hier keineswegs darum, Menschen mit Demenz in ihren psychosozialen Bedürfnissen und ihrer emotionalen Lage nicht begegnen zu wollen und zu müssen. Das steht völlig außer Frage. Es geht hier um ein Ungleichgewicht. Es bleiben Menschen mit Körpern. Und Körper können Probleme haben und machen.
Es ist seit längerem bekannt, dass Menschen mit Demenz signifikant weniger Schmerzmittel erhalten, als Menschen ohne Demenz. Meiner Meinung nach ist dies zumindest auch dem Umstand geschuldet, dass eine Demenz die Wahrnehmung der sorgenden Umgebung beeinträchtigt. Bleiben wir wach darin, Menschen in all ihren Facetten zu sehen – und verzichten wir so oft es geht auf ein „Bescheidwissen“ Kraft der Diagnose Alzheimer. Gerade Pflegeprofis müssen im Zusammenhang wach sein und bleiben – trotz aller Schulungen zwischen Wertschätzung und validierendem Umgang. Das gehört zu den Fähigkeiten von Pflegefachleuten, die von vielen Seiten unterschätzt werden.
Ein Mensch – viel zu bedenken
Betroffene sind in der Regel ältere Menschen die mehrere Erkrankungen haben. Auch und gerade deshalb ist pflegerische und medizinische Expertise nicht durch Betreuung und Aktivierung ersetzbar. Hilfs- und Assistenzberufe können hier ebenfalls nur sehr begrenzt wirksam werden – denn wenn ernste Probleme Betroffener hinter dem „Demenz-Vorhang“ verborgen sind, gibt es für sie meist keinen Anlass, überhaupt dahinter blicken zu wollen.
Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Stadium sind anfälliger für Infektionen – insbesondere der Atem- und Harnwege. Generell steigt das Risiko für alte, multimorbide Menschen an, Komplikationen im Rahmen einer Infektion zu erleiden. Die Immunantwort kann verzögert sein, die Lungenfunktion ist ggfs. ohnehin verringert, die Haut weniger elastisch und die Durchblutung reduziert usw. . Und ja, sie können unter Schmerzen leiden.
Pflegefachleute stehen, oftmals unter denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen, unter dem Druck und der Herausforderung, Menschen mit und ohne Demenz stets komplett zu sehen. Ihnen darf es nicht ausreichen, sich mit Ansätzen zur Befriedigung möglicher psychosozialer Bedürfnisse zufriedenzugeben. Als Demenzbeauftragte Ihres Krankenhauses müssen Sie darauf achten, dass kein Ungleichgewicht in der Versorgung entsteht.
Jochen Gust
Titelbild: Yaroslav Shuarev on pexels
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