
Die Frage kommt immer wieder auf: soll man einem Menschen mit Demenz mitteilen, wenn eine im nahestehende Person gestorben ist? Oder sollte man lieber darauf verzichten, zumal er die Information wahrscheinlich wieder vergisst?
„Ihr Sohn ist gestorben.“
Vor vielen Jahren starb der einzige Sohn einer alten Dame. Er hatte sie regelmäßig in dem Pflegeheim für Menschen mit Demenz besucht, in dem ich arbeitete. Er war einer dieser freundlich-zurückhaltenden Angehörigen, die häufig auch von den Mitarbeitenden sehr geschätzt werden. Er kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Alle waren sehr bestürzt über die Nachricht.
Schnell stellte sich die Frage: sagen wir es Frau B.? Sollen wir, dürfen wir? Und wenn ja, wer macht es? Die Fraktion „Wir sagen es ihr.“ setzte sich durch und ich meldete mich freiwillig, das Gespräch zu führen. Ich war auf alles mögliche gefasst, denn die Dame war eine, sagen wir, sehr „kernige“ Person im Versorgungsalltag. Wir saßen uns also gegenüber, abgeschirmt von Störungen. Und da Wahrheiten häufig platt sind, sagte ich ihr in einem Satz, was geschehen war. Frau B. sah mich an, reagierte zunächst überhaupt nicht. Ich begann unsicher zu werden, ob sie mich inhaltlich verstanden hatte. Und als ich in meinem Kopf noch nach einem guten, klärenden, anknüpfenden Satz suchte – da begannen ihre Tränen zu fliessen.
Als ich am nächsten Tag zum Dienst kam, war ihr die Nachricht vom verstorbenen Sohn nicht anzumerken. Sie war wie immer, keine Anzeichen von Trauer oder Traurigkeit. Hätte ich ihr das gestrige Gespräch ersparen sollen? Meine Gegenfragen dazu wären: Darf Trauer „kurz“ sein aufgrund von Vergesslichkeit? Ist sie dann weniger „wert“. Muss sich Trauer „lohnen“, zeitlich gesehen? Ist Trauer weg, wenn sie unsichtbar geworden ist?
Menschen mit Demenz und Trauer
Ich habe bis heute keinen sachlichen Grund anzunehmen, Menschen mit Demenz könnten und würden nicht trauern. Ich glaube sogar, das Gegenteil ist der Fall und wir sehen täglich in der Versorgung auch Auswirkungen des (ständigen) Verlusterlebens von Menschen mit Demenz. Wir ordnen das Verhalten nur nicht vor dem Hintergrund „Trauer“ zu. Gleichsam wie bei manchem Verhalten pflegender Angehöriger, die sich wiederholt und Stück für Stück von ihrem geliebten Verwandten verabschieden müssen, während die Demenz fortschreitet kommen uns alle möglichen Begründungen dafür in den Sinn. Aber Trauer?

In meinen Augen ist es grundsätzlich unethisch einem Menschen nicht mitzuteilen, wenn jemand für ihn bedeutsames gestorben ist. Er hat ein Recht darauf es zu erfahren. Daran ändert eine Demenz nichts. Menschen mit Demenz nicht die Möglichkeit zu geben zu trauern ist ein Ausschluss, der uns Dritten nicht zusteht. Ja, Betroffene bedürfen der Begleitung. Ja, Trauer wirkt sich ggfs. auf das Verhalten aus und damit müssen wir dann umgehen.
Trauer sieht individuell anders aus und dementsprechend muss die Begleitung gestaltet werden. Entscheidend dafür ist sicher auch der persönliche Kontext – vom Krankheitsfortschritt bis zur Beziehung.
Ich plädiere auch nicht dafür, einem Menschen der das Gespräch von heute Morgen oder gestern wieder vergessen hat, nun täglich neu aufzunötigen und ihn so immer und immer wieder neu die Todesnachricht zu überbringen, sozusagen mit Gewalt auf „die Wahrheit“ zu stoßen. Da wäre die Grenze zur Quälerei für mich erreicht. Aber einen Todesfall „zum Schutz“ völlig vorenthalten?
Wir können das aushalten
Hinter der Frage, ob einem Menschen mit Demenz eine Todesnachricht überbracht werden sollte oder nicht, steht in meinen Augen sehr oft nicht die Sorge, ob und wie der Mensch mit Demenz damit umgehen wird. Das Problem, die Hürde, die Schwierigkeit und die sich daraus ergebende Frage ist meist eher nicht „die Demenz“. Vielmehr fürchten wir, was wir dann vielleicht zu sehen bekommen, wenn die schlimme Nachricht beim Gegenüber ankommt. Oder vielmehr: was wir dann zu fühlen bekommen.
Unser Wunsch, die Trauer(reaktionen) des Gegenübers nicht erleben zu müssen darf uns nicht dazu verführen, Betroffenen die Möglichkeit zu entziehen, ihre eigene Trauer zu leben. Trauer ist etwas Lebendiges, Normales – und muss im Regelfall auch nicht medikamentös gedämpft werden.
Als Dritte, als Außenstehende können wir manchmal wenig tun, außer zu bleiben. Mit auszuhalten. Da zu sein, wenn jemand etwas so unfassbar Widernatürliches ertragen muss wie den Tod des eigenen Kindes. Manchmal ist nichts menschlicher als gemeinsam mit jemandem zu nehmen, was ist. Und seine Reaktion mit aller Geduld mitzutragen, die eigenen Gefühle davon zu trennen – und sie dennoch anzunehmen. Auch die, die uns schmerzlich sind.
Trauer kann gestaltet werden – auch für Menschen mit Demenz
Wie Trauerbegleitung aussehen kann, eine Verabschiedung gestaltet oder eine kurze persönliche Andacht – das sind Dinge, mit denen sich Dritte für den Menschen mit Demenz befassen müssen und können. Darin liegt eine Aufgabe und je nach Stellung auch das Recht etwas zu entscheiden weil Betroffene dabei mindestens Unterstützung benötigen, gerade wenn es um organisatorisches geht. Bestattungsunternehmen haben hierfür durchaus Lösungen und auch PastorInnen ist das Thema Demenz in dieser Beziehung nicht mehr so fremd, Hospizvereine unterstützen hierbei sicher auch gerne. Unter trauernden Angehörigen können auch Menschen mit Demenz sein – das ist so ungewöhnlich nicht.
Wir sollten uns nicht selbst ermächtigen, Menschen mit Demenz als Trauernde aufgrund ihrer Erkrankung auszuschließen.
Jochen Gust
Titelfoto von Kindel Media: on pexels
Foto von Karolina Grabowska on pexels
Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel! Ich kann mir auch vorstellen, dass die Frage nach dem Verstorbenen, z. B. dem Sohn immer wieder aufkommt. „Wann kommt er?“ oder „Was er wohl gerade macht?“.
Da wäre es gut, Angehörige. und Pflegende hätten sich damit auseinandergesetzt, wie sie in solchen Momenten wertschätzend und diplomatisch oder ehrlich und emphatisch antworten können.
Danke für Ihren Kommentar. Ja, dafür braucht es eine gemeinsame Haltung und Strategie. Häufig lässt sich das meiner Auffassung nach auch durch entsprechende Antworten im Alltag lösen insbesondere auch dadurch, dass im Einzelfall nicht jedes Mal korrigierend reagiert wird, wenn Betroffene einer falschen Annahme (oder Hoffnung?) unterliegen. Ist eine typische „kommt drauf an“-Situation für mich.
Danke für diesen Artikel – ein bedeutendes Thema. Ich erlebe sehr häufig, dass die Diagnose Demenz dem Betroffenen jegliche Fähigkeiten und Gefühle abgesprochen werden. Während meiner Tätigkeit mit Menschen mit Demenz mache ich viele andere Erfahrungen.
Menschen mit Demenz haben ein sehr feines Gespür. Sie spüren, wenn sie nicht ernst genommen werden. Das beunruhigt sie oft mehr. Gefühle ausdrücken zu können, auch Traurigkeit über einen Verlust des verstorbenen eigenen Kindes. Zur Begleitung meine ich, dass das Pflegeteam im Krankenhaus miteinbezogen werden soll, damit ein wertschätzender Umgang begleitend möglich ist.
Danke für Ihren Kommentar. Da bin ich bei Ihnen – auch Menschen mit Demenz nehmen Wahrhaftigkeit wahr. Selbst wenn sie nicht benennen können was nicht stimmig ist löst die Wahrnehmung, dass ihr Gegenüber sie nicht ernst nimmt, Misstrauen aus und andere, die Beziehung erschwerende Aspekte können hinzu kommen. Das ist nicht gleichzusetzen damit, meinem Gegenüber „die Wahrheit“ immer wieder vor den Latz zu knallen. Gerade Gesundheitsberufler sollten sich ebenfalls mit diesen Fragen auseinandersetzen – denn Angehörige wie Betroffene profitieren von einer gemeinsamen Haltung und gegenseitigen Unterstützung.
Danke für den Artikel und den ausführlichen Erklärungen. Mein Schwiegervater hat eine aggressive Demenz und wir wissen nicht, wann wir ihm den Tod seines Bruder mitteilen wollen. Die Aggressivität richtet sich bei ihm gegenüber andere Personen. Auf alle Fälle würden wir vorher mit der Pflegeheimleitung Rücksprache halten, um etwaiges „Fehlverhalten“ wie z.B. Nahrungsmittel an die Wände werfen, besser verstehen zu können. Wie sind Ihre Erfahrungen bei der Übermittlung der Todesnachricht, besser einen „lichten Moment“ abwarten. Würde es auch helfen, z.B. die Todesanzeige von seinem Bruder zu zeigen? Seine körperlichen und verbalen Reaktionen, trotz den körperlichen Behinderungen, sind schwer einschätzbar.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Aus der Ferne mit so wenigen Informationen ist eine Einschätzung sehr schwierig, zum richtigen Vorgehen. Ob das Vorlegen einer Todesnachricht hilfreich ist, ist schwer zu sagen. Beim Überbringen der Todesnachricht geht es eigentlich nicht um „Beweisbarkeit“, sondern um Emotionen die damit verbunden sind. Es ist gut, wenn Sie sich mit den Pflegeprofis vor Ort absprechen.
Vielen lieben Dank für den Artikel und ja ich finde es wichtig trotzdem den Todesfall mitzuteilen.
Wie sieht es allerdings aus wenn der Ehepartner mit Demenz nicht auf Beerdigung gehen will um möglichst das Bild von vorher behalten zu wollen wie es war vor dem Tod?
Bin gerade aktuell ziemlich überfragt ob man den demenzkranken lieber fern lässt oder immer mit gutem zureden aufmuntert daran teil zu haben für die eigene Verarbeitung.
Gruß carmen
Hallo,
ich würde zwar das Angebot machen, an der Beerdigung teilzunehmen. Denn für die meisten Menschen ist die Teilnahme im Rahmen des Trauerprozesses wichtig. Möglicherweise hat der Ehepartner auch Sorgen mit den Abläufen, Angst, überfordert zu werden oder andere Gründe, eine Teilnahme abzulehnen. Mehr als anbieten ihn zu begleiten und versuchen, ihm Sicherheit zu geben, dass er nicht allein ist und vor schwierigen Situationen bewahrt wird bzw. durch sie hindurchbegleitet wird, kann man aber wohl letztlich nicht tun. Auch das Nichtteilnehmenwollen muss letztlich akzeptiert werden.
Es grüßt Sie
Jochen Gust