Viele Pflegefachleute berichten von Überlastungssituationen. Der Mangel an Pflegefachleuten kann auch zu lebensgefährlichen Situationen führen, nicht nur im Intensivbereich. In Deutschland fehlen je nach Quelle und Berechnungsgrundlage mehr als 300.000 oder gar 500.000 Pflegefachkräfte bis zum Jahr 2035.
Im Bundesdurchschnitt bleiben laut Bundesgesundheitsministerium Stellenangebote für examinierte Altenpfleger*innen mehr als 200 Tage unbesetzt. Folgt man entsprechenden Accounts auf Twitter oder Facebook, finden sich teils dramatische Schilderungen der Zustände, nicht wenige Kolleg*innen berichten von ihrem #Pflexit, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr hinnehmen wollten. Und derzeit bestreiken (nicht nur) Pflegefachleute in Berlin Kliniken.
Ein Satz lässt aufhorchen
Am 04. Oktober berichtete der WDR über einen Fall in Enger: in einer Seniorenresidenz wurden die Zustände demnach als so dramatisch empfunden, dass ein „Pfleger“ in seiner Not die Polizei rief. In diesem Artikel wird Thomas Kalwitzki zitiert:
„Im Bundesdurchschnitt brauchen wir 36 Prozent mehr Personal, das aber fast nur im Bereich der qualifizierten Hilfskräfte, das heißt nur ganz wenig mehr Fachkräfte oder ungelernte Kräfte.“.
Wie passt das zusammen? Ich habe nachgefragt.
3 Fragen an Thomas Kalwitzki zum Fachkräftebedarf in der Langezeitpflege
Jochen Gust: Herr Kalwitzki, Pflegefachfrauen und -männer berichten zum Teil von dramatischen Zuständen, gefährlichen Situationen und stimmen reihenweise mit den Füßen ab: sie reduzieren Stunden oder steigen gleich ganz aus. Sie fordern neben einer besseren Bezahlung bessere Arbeitsbedingungen – sprich, mehr Kolleginnen und Kollegen. Und dann kommen Sie mit so einer Aussage, dass vor allen Dingen qualifizierte Hilfskräfte benötigt würden. Können Sie verstehen, dass sich manche Kolleg*innen über so einen Satz aufregen – und können Sie ihn erklären?
Thomas Kalwitzki: Ich verstehe sehr gut, dass das individuelle Erleben der Pfleger:innen zu Arbeitsbedingungen in einer Einrichtung und eine wissenschaftliche Aussage, die sich auf über 12.000 Einrichtungen bezieht, voneinander abweichen können. Ersteres bezieht sich auf das heute eingesetzte Personal in jedem Einzelfall, Zweiteres auf den Gesamtpersonalbedarf in ganz Deutschland. Die vom mir zitierten 36% Mehrpersonal sagen also noch nichts darüber aus, wie diese rund 115.000 Vollzeitäquivalente auf die einzelnen Einrichtungen verteilt werden sollten. Das ist aber bis hierhin nur eine reine Betrachtung der Personalmenge zu der es auch wenig Kritik gibt. Qualitativ – und darauf bezieht sich die von Ihnen angesprochene Aufregung – wird der von uns ausgewiesene Personal-Mix angesprochen. Und hierzu sagen die empirischen Ergebnisse, dass bundesweit rund 4% mehr Fachkräfte erforderlich sind, aber 69% mehr Personal niedrigerer Qualifikationsstufen. Wir zeigen also einen Mehrbedarf in allen Qualifikationsstufen auf.
Der bei weitem größte Personalbedarf besteht bei ausgebildeten Pflegehilfs- und Pflegeassistenzkräften, die je nach Bundesland eine 1- bis 2-jährige Ausbildung absolviert haben. Empirisch zeigt sich also ein riesiger Mehrbedarf an helfenden Händen auch und vor allem unterhalb des Fachkraftniveaus. Gerade diese Personalgruppe kann bei einem kompetenzorientierten Arbeitseinsatz dafür sorgen, dass die Fachkräfte entlastet werden und wieder mehr Zeit für die komplexen Tätigkeiten und Vorbehaltsaufgaben haben. Und an dieser Stelle finde ich es schade, wenn sich die Pflegeszene selber schwächt, indem sich Pflegefachkräfte und Pflegekräfte niedrigerer Qualifikationsniveaus gegeneinander positionieren, statt sich als Ergänzung für ein qualitativ hochwertiges Pflegehandeln zu betrachten.
Jochen Gust: Ihre Untersuchung gibt also her, dass qualifizierte Hilfskräfte ein oder der wesentliche Faktor für die Entlastung auch der Fachkräfte sind. Wie und wofür müssten diese Hilfskräfte eingesetzt werden?
Thomas Kalwitzki: Ja, das stimmt, wir sehen in den vielen ausgebildeten Pflegehilfs- und Pflegeassistenzkräften, die nach unseren Ergebnissen zusätzlich erforderlich sind, einen der wesentlichen Faktoren, der zur Entlastung der Pflegefachkräfte führen kann. Hierfür ist aber – neben der reinen Kopfzahl – ein neues Rollenverständnis auf beiden Seiten erforderlich. Pflegefachkräfte müssen die Pflegeabläufe planen und steuern. Das bedeutet, sie müssen auch aktiv entscheiden, welche Pflegekraft welche Pflegetätigkeit übernehmen soll – und das heißt auch, dass die Fachkräfte sich selber dort in der praktischen Pflege einsetzen müssen, wo ihre Expertise unersetzbar ist. Aber auch nicht darüber hinaus. Auf Seiten der ausgebildeten Pflegehilfs- und Pflegeassistenzkräfte bedeutet das, komplementär zu den Pflegefachkräften zu arbeiten und Pflegetätigkeiten genau dann weiterzugeben, wenn die eigene Fachkompetenz nicht ausreicht. Letzteres setzt aber natürlich voraus, dass die Fachkräfte dann auch präsent sind und nach Möglichkeit gemeinsam mit der Pflegehilfskraft akute und längerfristige Lösungen finden. Es geht also im Kern darum, die unterschiedlichen Kompetenzen anzuerkennen und entsprechend ergänzend einzusetzen. Und darüber wieder echte Team-Arbeit zu ermöglichen.
Auch wenn das vielleicht sehr einfach klingt, greift das doch an einer Stelle an, die wir in unserer Studie in stationären Einrichtungen regelmäßig beobachtet haben: dadurch dass keine klaren Zuständigkeiten bestehen, ist jede Pflegekraft – unabhängig ihrer Qualifikation – gefühlt für alles zuständig. Und tut dann auch alle Tätigkeiten, die gerade anliegen. Hierdurch wird nicht nur die wertvolle Zeit der Fachkräfte ineffizient eingesetzt, auch werden Pflegehilfskräfte gezwungen, Tätigkeiten zu übernehmen, für die sie nicht qualifiziert sind. Und da ist Überforderung und Dauerstress vorprogrammiert. Schon heute – ohne weiteres Mehrpersonal – könnte bei einer kompetenzorientierten Arbeitsorganisation die Zeit, die von Fachkräften für Fachkraftaufgaben eingesetzt wird, fast verdoppelt werden.
Jochen Gust: Für eine deutlich spürbare Entlastung der examinierte Pflegefachleute – über wie viele zusätzliche Hilfskräfte sprechen wir da? Und über welche Zeiträume sprechen wir Ihrer Einschätzung nach, bis diese Kräfte tatsächlich zur Verfügung stehen?
Thomas Kalwitzki: Unsere Studienergebnisse zeigen, dass rund 100.000 Vollzeitäquivalente unterhalb des Fachkraftniveaus erforderlich sind, um die beschriebenen Entlastungseffekte vollständig zu ermöglichen. Das galt allerdings in den Organisationsstrukturen des Jahren 2018, in dem wir unsere Erhebungen gemacht haben. Wenn wirklich die geforderten und teilweise schon begonnenen Maßnahmen der Organisations- und Personalentwicklung umgesetzt werden, wird sich das eventuell noch einmal verändern. Aber das wissen wir genau erst nach Abschluss der Modellprojekte mit denen ab 2022 die Verzahnung von Mehrpersonal und Organisationsstrukturen erprobt werden wird.
Für die Umsetzung sprechen Sie aber einen wichtigen Punkt an: Egal wie viele zusätzlich Stellen wir jetzt in der Refinanzierung ermöglichen, müssen diese auch besetzt werden. Das ist kein Projekt für ein oder zwei Jahre, sondern vielleicht die drängendste soziale Frage der 2020er Jahre. Bewältigen werden wir diese Aufgabe nur mit gemeinsamen Anstrengungen in den Bereichen Ausbildung, Weiterbildung, Qualifizierung und Wiedereinstieg. Hier sind alle institutionell Beteiligten – vom Gesetzgeber über die Kostenträger bis zu den Einrichtungen – gefordert, entsprechende Strukturen zu schaffen. Aber – und hier möchte ich noch einmal den Bogen zum Anfang spannen – hier sind auch alle Pfleger:innen gefordert, egal welchen Abschluss sie haben: Sie sind das Gesicht der Pflege und es ist für die Attraktivität des Berufs elementar, welchen Ausdruck dieses Gesicht zeigt. Damit möchte ich keinesfalls sagen, dass in der Pflege alles rund läuft, aber ich bin sicher, dass die Personalfrage nur dann gelöst werden kann, wenn die aktiv Pflegenden auch Veränderungs- und Verbesserungspotenziale sehen und diesen Geist an junge Leute weitergeben, die sich für einen sinnvollen und erfüllenden Beruf entscheiden wollen.
Ich danke Herrn Thomas Kalwitzki für seine Antworten.
Jochen Gust
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