
Verwahrlosung ist ein sensibles Thema in der Versorgung von Menschen mit Demenz. Es betrifft nicht nur die persönliche Würde eines Menschen, sondern immer wieder stellen sich in der Praxis schwierige Fragen: wann ist es noch Selbstbestimmung? Wann muss eingegriffen werden? Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen bringt mit sich, dass es mehr Fälle geben wird. Freikaufen können wir uns aber nicht.
Das Recht auf Selbstbestimmung
In der Diskussion um Selbstbestimmung wird das Konzept des „Rechts auf Verwahrlosung“ regelmäßig thematisiert. Dieses besagt, dass Menschen das Recht haben, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, selbst wenn dies zu einem Zustand führt, den andere als verwahrlost empfinden. „Verwahrlosung“ ist kein juristischer Begriff.
Das deutsche Grundgesetz schützt das Recht auf Selbstbestimmung – auch dann, wenn andere diese Lebensweise als „verwahrlost“ empfinden. Auch Menschen mit Demenz sind sehr lange in verschiedenen Bereichen ihres Lebens in der Lage, selbst zu entscheiden. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat für Angehörige hier (pdf) Hilfreiches zusammengefasst.
Das Grundgesetz ist der Maßstab – auch in der Pflege
Art. 1 GG – Die Menschenwürde ist unantastbar. Auch wenn ein Bewohner nach außen verwahrlost wirkt, darf das nicht automatisch zu einem Eingreifen führen. Die Würde verlangt Respekt vor individuellen Lebensentwürfen.
Art. 2 Abs. 1 GG – Freie Entfaltung der Persönlichkeit. Jeder Mensch – auch mit Pflegebedarf – darf sein Leben so gestalten, wie er es für richtig hält. Selbst dann, wenn andere das Verhalten als „unzumutbar“ empfinden.
Zur Klarstellung im Zusammenhang mit Verwahrlosung, sofern damit vor allem der hygienische Zustand eines Betroffenen oder seines Lebensumfeldes gemeint ist: Pflegefachleute sind nicht dazu verpflichtet, ein „ordentliches“ oder „hygienisches“ Leben durchzusetzen noch ist ihnen das aufgrund einer Sonderstellung ohne Einwilligung einfach „erlaubt“.
Garantiert: die Pflicht zur Hilfe
Es gibt auch die Verpflichtung zu helfen: Pflegefachpersonen tragen ggfs. auch Verantwortung dann, wenn sie nichts tun. Denn nach § 13 StGB kann strafbar sein, wer eine Gefahr nicht abwendet, obwohl er rechtlich dazu verpflichtet ist. Dennoch folgt hier schon das nächste „aber“: die Pflicht zum Eingreifen gilt nicht bedingungslos. Es geht immer um die Verhältnismäßigkeit – und um die Frage, ob die betreffende Person ihre Entscheidung überhaupt noch selbst treffen kann.
Pflegeprofis stehen vor der Herausforderung, das richtige Maß zwischen Zurückhaltung und Handlungspflicht zu finden. Einerseits garantiert das Grundgesetz die freie Persönlichkeitsentfaltung – selbst wenn individuelle Lebensweisen von außen als befremdlich empfunden werden. Andererseits verlangt die gesetzliche Garantenstellung, dass ernstzunehmende Gefahren für Gesundheit und Leben nicht unbeachtet bleiben dürfen.
Wichtig: besteht eine akute Gefahr für den Menschen mit Demenz oder andere Personen, besteht eine klare Handlungspflicht.
Spannungsfeld oft schwer auflösbar
Zwischen ethischen Fragen und Juristerei geraten (nicht nur) Pflegefachleute häufig unter Druck bei diesen Fragen. Hinzu kommt oft die Bewertung durch Dritte die „schlechte Pflege“ unterstellt, wenn der Pflegezustand oder auch das nahe Lebensumfeld eines Menschen mit Demenz nicht den Wünschen oder erwarteten Normen entspricht. Hilfreich für eine ethische Entscheidungsfindung in der Pflege ist die sogenannte Nijmegener Methode („Nimwegener Methode“). Dabei geht es vor allem darum, nicht einfach „Normen durchsetzen“, und isolierte, einsame Entscheidungen darüber zu treffen was „das Beste ist“. Vielmehr geht es um einen strukturierten Prozess zur Entscheidungsfindung, wenn sich Fragen an der Grenze zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge stellen. Damit unterscheidet sich die Nimwegener Methode grundlegend von konfrontierenden oder nur hygienisch motivierten Maßnahmen. Zwar missfällt mir der „Comic-Stil“, dennoch empfehle ich hier ein Youtube-Video dazu.
Putzen ist nicht die Lösung
Je weiter eine Demenzerkrankung fortschreitet, desto weniger ist der Erkrankte in der Lage, darauf angemessen zu reagieren. Das unterscheidet Demenzen ganz wesentlich von vielen anderen Erkrankungen und erklärt, warum im Verlauf immer mehr und weitere Unterstützung nötig wird – und zwar auch dann, wenn eine Person rein körperlich noch in der Lage wäre, sich selbst zu helfen.
Fachkräftemangel ist ein systemischer Risikofaktor für Verwahrlosung im Alter.
Wenn nicht genug qualifizierte Mitarbeitende vorhanden sind, können wichtige Schutzmechanismen wie Zuwendung, Beobachtung, Tagesstruktur oder wertschätzende Kommunikation nicht mehr verlässlich greifen. Wenn Pflege nur noch Zeit hat das „Allernötigste“ zu „erledigen“ versagt das System auch in dieser Hinsicht. Frühe Anzeichen werden übersehen – oder zwar wahrgenommen, aus Zeitmangel und vielleicht auch aus Resignation wird jedoch nicht mehr reagiert.

Desweiteren steigt das Risiko, dass sorgfältige Abwägungsprozesse nicht mehr vorgenommen werden. Ethische Betrachtung, Wissen um juristische Grenzen und notwendige Gespräche erfordern, Schulung, Auseinandersetzung, Zeit. Wer unter Zeitdruck steht und wenig Fachwissen hat, greift eher zu schnellen, auch übergriffigen Lösungen.
Auf der Entscheidungs- und auch der Kontrollebene – z.B. im Entlassmanagement eines Krankenhauses oder auch im Rahmen der Heimaufsichten ebenso wie in der Arbeit der sozialpsychiatrischen Dienste liegt die Gefahr, dass Zustände toleriert werden im Wissen, dass aufgrund der personellen Situation in der Versorgung nur schwer oder mit großem Aufwand etwas zu erreichen ist. Dann ist der Verweis auf das „Recht zur Verwahrlosung“ leicht und schnell: Fall abgeschlossen, „der/die will das ja so.“.
Mehr Menschen mit Demenz werden als verwahrlost auffällig werden
Wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, den Fachkräftemangel im Gesundheits- und Pflegesektor wirksam zu bekämpfen, sind die Folgen für ältere und insbesondere demenzkranke Menschen dramatisch vorhersehbar:
Mehr Fälle von Verwahrlosung und Selbstvernachlässigung. Menschen mit Demenz sind besonders vulnerabel, weil sie auf regelmäßige Ansprache, Struktur und Unterstützung angewiesen sind. Verwahrlosung entsteht nicht in erster Linie durch Staub, Unordnung oder schmutzige Wäsche.
In der Konsequenz muss uns als Gesellschaft klar sein: von Themen wie Verwahrlosung und Selbstvernachlässigung bei Demenz können wir uns nicht via „Hauswirtschaftshilfen“ über die Pflegekassen freikaufen. Wirksam sind nur Versorgungsmodelle, die körperliche, soziale und psychische Bedürfnisse im Blick haben – und die Zeit dafür gegeben ist, auf Bedarfe angemessen zu reagieren.
Jochen Gust