Expertenstandard Beziehungsgestaltung: „Ich glaube, dass wir mehr Brücken zwischen der Pflegewissenschaft und der Praxis benötigen.“

Noch ist der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung (DNQ) ein häufiges Thema in der Pflege und es werden hunderte Vorträge, pdf-Dateien, Powerpointfolien, Publikationen und natürlich Schulungen dazu gemacht und angeboten.

Wie die Expertenstandards des DNQ insgesamt, sind es vielfältige, fundierte Informationen von Fachleuten, die in großem Umfang zusammengestellt wurden. Jede*r professionell Pflegende kennt diese Arbeiten. Allerdings sieht die praktische Umsetzung häufig so aus, dass Pflegende den neuen Expertenstandard, sobald er herausgegeben wurde, von Vorgesetzen zu lesen bekommen. Häufig müssen sie abzeichnen, ihn gelesen zu haben. Und manche*r Referent*in beschränkt sich darauf, letztlich „an die Wand zu werfen“, was drinsteht. Fall abgeschlossen, Expertenstandard umgesetzt.

Expertenstandard umgesetzt. Wirklich?

Nicht wenige Pflegefachpersonen reagieren mit einem Reflex der Unterwürfigkeit, sobald das Wort „Expertenstandard“ fällt. Weil sie nicht wissen was darinsteht. Oder es nicht nachvollziehen und verstehen können. Oder ihnen die Energie dazu fehlt, sich „neben“ ihrem Dienst intensiv damit auseinanderzusetzen. Oder ihnen eine Art biblische Unfehlbarkeit der Expertenstandards vermittelt wurde, von deren Gebote keinesfalls abgewichen werden darf. Jedoch: Praxisleitfäden sind Expertenstandards nicht, auch keine Leitlinien. Es sind die bestmöglichen Ausgangslagen, verifizierte Basisinformationen. Umsetzen, in die pflegerische Praxis bringen, müssen das aber nicht die Autor*innen. Die Expertenstandards für die eigene Einrichtung, den eigenen Dienst anzupassen und umsetzbar zu machen – das wäre, das ist Aufgabe leitender Mitarbeiter. Und zwar unter den vorherrschenden Bedingungen in der Pflege. Abzeichnen, dass der Expertenstandard gelesen wurde oder wenigstens zu wissen in welchem Regal er steht – das unterstützt keine Pflegefachperson in ihrer Arbeit – und nützt auch den Pflegebedürftigen erstmal nichts.

Buch: Expertenstandard in der Praxis anwenden – Fragen an den Autor

Dr. Hans-Jürgen Wilhelm; Soziologe und Jurist, Vorstand des Elisabeth Alten- und Pflegeheim (Hamburg) und Autor des Buchs „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz – Expertenstandard in der Praxis anwenden“.

Jochen Gust: Herr Dr. Wilhelm, Pflege ist immer auch Arbeit in Beziehung. Muss es dafür einen Standard geben?

Hans-Jürgen Wilhelm: Wenn der Standard dazu führt, dass ich mir die Beziehung in der konkreten Situation bewusst mache, dann auf jeden Fall. Im normalen Alltag steht die Beziehung, die ich zu meinem Gegenüber habe meist fest, so dass ich nicht gezwungen bin, diese zu hinterfragen. In der Pflege fällt es jedoch oft schwer, die tatsächliche Beziehung zu definieren. In der Arbeit mit an Demenz erkrankten Menschen wird dies nochmals schwieriger. Der an Demenz erkrankte Mensch ist sicher, dass die Pflegekraft seine Tochter ist und sein Sohn irgendein Fremder, den er noch nie gesehen hat. Hier wird deutlich, wie wichtig ist es, zu erkennen, dass die gerade für den an Demenz erkrankten Menschen gültige Beziehung nicht wie sonst vorgegeben ist, sondern im konkreten Handeln mit ihm erkannt werden muss. Manchmal bin ich der Sohn, dann später vielleicht ein Schüler oder…

Jochen Gust: Ihr Buch nimmt Aussagen des Expertenstandards Beziehungsgestaltung und fasst diese kurz zusammen, zieht sozusagen die Essenz heraus. Ist dieser oder sind die Expertenstandards des DNQ so schwer verständlich, dass eine solche Übersetzung nötig ist?

Hans-Jürgen Wilhelm: Ich glaube, dass wir mehr Brücken zwischen der Pflegewissenschaft und der Praxis benötigen. Der Expertenstandard ist ein wissenschaftliches Werk und als solches wichtig und großartig. Aber in dieser Form kann er für die im Pflegealltag Handelnden keine Hilfe sein. Die Idee für dieses Buch ist entstanden, als wir in unserem Leitungsteam darüber diskutierten, was unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen, um diesen Expertenstandard bei der täglichen Arbeit tatsächlich als Hilfe und Unterstützung zu erkennen.

Jochen Gust: Haben Sie grundsätzliche Tipps zur Umsetzung der Expertenstandards in die Praxis?

Hans-Jürgen Wilhelm: Wie Sie oben richtig schreiben, ist sehr viel mehr notwendig, als abzuzeichnen, dass ich den Expertenstandard gelesen habe. Er muss als Werkzeug seinen festen Platz im Pflegealltag erhalten und dies kann er nicht in der Form als wissenschaftliches Werk, dass auf jedem Bereich im Regal steht. Er muss in den Alltag übertragen und dort gelebt werden. Das geht aber nicht schnell im Rahmen einer 45-minütigen Fortbildung, sondern benötigt viel Arbeit, Zeit und Konstanz.

Das Buch „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz – Expertenstandrad in der Praxis anwenden“ ist bei Vincentz Network erschienen (17.04.2020) und umfasst 72 illustrierte Seiten zum Preis von 17,90 €. Die Illustrationen sind von Tobias Kurtz.

Jochen Gust

Titelfoto: Foto von fauxels v. Pexels; Foto d. Autors persönl., Covergrafik mit freundl. Genehmigung Vincentz Network

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