Homosexualität und Demenz

Schaut man in Biographiebögen in der Altenpflege fällt auf, dass häufig weder nach Geschlecht noch nach sexueller Orientierung gefragt wird. Es scheint geradezu selbstverständlich zu sein, dass alte Menschen heterosexuell sind, zumal wenn Pflegebedarf da ist. War früher weniger Vielfalt? Oder war sie schlicht unsichtbar?

Geschlechtliche Vielfalt und und sexuelle Präferenzen sind noch immer kein selbstverständliches Thema. Zeit, auch an dieser Stelle mit der Thematik umzugehen und Aspekte zu beleuchten.

Katrin Kabelitz, Krankenschwester, Pflege- und Sexualpädagogin

Ein Gastartikel von Katrin Kabelitz:

„Wie kann sie denn lesbisch sein? Sie war doch mit einem Mann verheiratet und hat sogar das Hochzeitsfoto in ihrem Zimmer stehen?“ fragte mich vor einigen Jahren ein*e Auzubildende*r bei einer Praxisbegleitung, nachdem eine Bewohnerin von ihrer großen Liebe zu einer Frau erzählt hatte.

Beim Thema „Homosexualität und Demenz“ treten bei Pflegenden und Angehörigen oft Unsicherheiten, Schweigen und auch Scham auf. Sie haben oft keine Vorstellungen, wie das Leben älterer homosexueller Menschen aussieht und aussah. Während das Thema „Sexualität und Demenz“ immer mehr in der Öffentlichkeit sichtbar wird und auch zahlreiche Publikationen, zum Beispiel von ProFamilia, veröffentlicht werden, scheint eine mögliche Homosexualität bei Menschen mit Demenz für viele unvorstellbar.

LSBTI – heißt?

Die Themen Sexualität, geschlechtliche Vielfalt und sexuelle Orientierung kommen in den Rahmenlehrplänen nur rudimentär vor und die Umsetzung hängt von den jeweiligen Lehrenden ab. Im Rahmenlehrplan für die generalistische Pflegeausbildung werden LSBTI Menschen in der CE 09 „Menschen bei der Lebensgestaltung lebensweltorientiert unterstützen“ eindeutig genannt. Doch was sind LSBTI, wie sehen mögliche Lebenswelten aus und welche besonderen Bedarfe gibt es in der Versorgung von LSBTI Menschen mit Demenz?

Die Buchstaben LSBTI stehen für lesbisch, schwul, bisexuell, trans und inter. Oft werden sie noch durch ein Q für queer und ein * für weitere, nicht genannte Identitäten und Lebensformen ergänzt. Die Bezeichnungen schwul, lesbisch und bisexuell bezeichnen die sexuelle Orientierung eines Menschen, d.h. zu wem eine romantische/sexuelle Anziehung besteht. Trans und inter beziehen sich auf die Geschlechtsidentität. Bei trans Personen stimmt das bei der Geburt anhand genitaler Merkmale zugewiesene Geschlecht nicht mit dem gelebten und gefühlten Geschlecht überein, zum Beispiel bei trans Männern oder trans Frauen. Es gibt auch Menschen, die sich keiner der beiden Kategorien zuordnen können oder möchten, sie nutzen für sich Begriffe wie non-binär oder nicht-binär trans. Inter(geschlechtlich) bedeutet, dass die Menschen aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale nicht in die Kategorien Mann oder Frau passen, sei es in Bezug auf Geschlechtsorgane, Chromosomen oder Hormone. Die Geschlechtsidentität steht nicht mit der sexuellen Orientierung in Verbindung, daher sollten die Begriffe „transsexuell“ und „intersexuell“ nicht mehr als Fremdbeschreibung verwendet werden, sondern „transident“, „transgeschlechtlich“, „transgender“ (kurz: trans) sowie „intergeschlechtlich“ (kurz: inter).

Nach ehemals geltendem Recht: Verfolgung und Demütigung

Viele jüngere Menschen identifizieren sich ganz selbstverständlich als nicht-heterosexuell und leben nach dem Coming-out offen. Für viele ältere Menschen ist dies oft undenkbar, insbesondere, wenn sie in den 1920er- 1940er Jahren geboren wurden. Während der NS-Zeit wurden Homosexuelle Männer nach §175 Strafgesetzbuch verfolgt und mit Gefängnisaufenthalten oder Konzentrationslager bestraft und umgebracht. Homosexuelle Frauen wurden zwar nicht in dieser Form juristisch verfolgt, im Konzentrationslager landeten sie dann aber oft trotzdem, als „asozial“ oder als psychisch krank.

Nach der NS-Zeit und dem Ende der Besatzung durch die Alliierten wurde der §175 in der Bundesrepublik (BRD) nicht abgeschafft, sondern in der im Nationalsozialismus verschärften Form beibehalten. Homosexuelle Männer waren somit weiter gesetzlicher Verfolgungen ausgesetzt. Es gab weiterhin Versuche, die Homosexualität durch Kastrationen oder Eingriffe am Gehirn zu heilen, und auch heute haben viele noch das Verständnis von Homosexualität als Krankheit. In der sowjetisch besetzten Zone und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde der §175 eingeführt, wie er bis 1935 galt, 1958 wurde die Strafverfolgung für geringe Vergehen ausgeschlossen, sodass in der DDR ab Ende der 1950er Jahre homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen straffrei blieben. Es gab zahlreiche Versuche in der BRD den Paragrafen zu streichen oder abzumildern, welche jedoch alle scheiterten. 1969 und 1973 kam es jeweils zu Reformen, jedoch vor allem in Bezug auf das Schutzalter. Die ersatzlose Aufhebung des §175 fand erst im Jahr 1994 statt, und das Schutzalter bezüglich sexueller Praktiken wurde generell auf 14 Jahre festgelegt, unabhängig vom Geschlecht.

Diskriminierung im Alltag

Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen ist jedoch nur ein Aspekt. Für die Einzelnen nicht weniger bedeutsam sind die strukturellen Ungleichheiten und Diskriminierungen im Alltag. Das in den 1950er Jahren vorherrschende Bild von Sexualität und Familie führte dazu, dass zahlreiche homosexuelle Menschen Partner*innen gesucht haben, um durch eine heterosexuelle Hochzeit nicht mehr unter ständiger Beobachtung zu stehen, warum man noch nicht verheiratet sei. Es gibt homosexuelle Ehepaare, die auch gemeinsam Kinder bekommen haben. Viele von ihnen lebten ihre Homosexualität nur im Verborgenen aus. Es gab viele Lesben oder bisexuelle Frauen, die zusammen als „Cousinen“ gewohnt haben. Frauen gelang dies oft leichter, da sie gesellschaftlich kaum beachtet wurden. Dass zwei Männer als Cousins zusammen wohnen, wäre viel weniger denkbar gewesen.

Demenz – das Ende der Heimlichkeit

Menschen, die in diesen Zeiten ihre sexuelle Entwicklung und Prägung durchlaufen haben, sind es oft nicht gewohnt über Sexualität und Bedürfnisse zu sprechen. Viele haben ihr Leben den heterosexuellen Normen unterworfen und angepasst, und oft wurden noch nicht einmal innerhalb der Beziehung die homosexuellen Bedürfnisse geäußert, sodass ein Bild einer heterosexuellen Person entstand. Durch eine Demenz verlieren die gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen jedoch immer mehr an Bedeutung, die emotionalen Aspekte treten in den Vordergrund. So kann es sein, dass ältere Menschen mit Demenz sich scheinbar „plötzlich“ dem gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, oder Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen, wie sie sich versteckt haben, heimlich geküsst und wie schwer die Zeiten waren. Eine solche Öffnung, der oft gut verborgenen Bereiche der Person, kann bei Angehörigen zu großen Irritationen oder Unverständnis führen. Plötzlich sind Angehörige damit konfrontiert, dass die eigene Mutter eine Lesbe war, und stellen dann möglicherweise sich und das ganze Familienleben in Frage.

Herausforderung für die Pflege

Pflegende müssen ihre eigene geschlechtliche Identität und Sexualität reflektieren, ihre Werte- und Moralvorstellungen überprüfen und einen wertschätzenden Umgang mit allen Menschen pflegen. Unsere Sexualität ist ein Teil unserer Persönlichkeit, der uns prägt, auf den wir allerdings nicht reduziert werden sollten. Vielen älterer homosexueller Menschen ist es unangenehm, als schwul oder lesbisch bezeichnet zu werden und sie bevorzugten in ihrer Jugend Begriffe wie „homophil“ oder „verzaubert“. Bei vielen sitzt die Angst vor Verfolgung sehr tief, hat doch in ihrer Jugend schon ein lustvoller Blick ausgereicht um angezeigt zu werden. Pflegende sollten einfühlsam und wertschätzend kommunizieren, zuhören, keine Bewertungen oder Abtun der Situation vornehmen und auch niemanden drängen, sich als schwul oder lesbisch zu bezeichnen. In Gruppen von Menschen mit Demenz kann es auch zu Konflikten kommen, wenn sich etwa zwei Männer küssen und ein anderer diese als „perverse Schweine“ bezeichnet. Hier kann eine validierende Haltung helfen. Rationale Argumente sind oft nicht zielführend.

Die Sexualität homosexueller Menschen mit Demenz und die Sexualität heterosexueller Menschen mit Demenz unterscheidet sich nicht wesentlich. Jedoch sind die Biografien meist sehr verschieden und von unterschiedlichsten Diskriminierungserfahrungen geprägt. Dies macht einen besonders sensiblen, individuellen und wertschätzenden Umgang der Pflegenden nötig, der Menschen nicht nur auf ihre Sexualität reduziert, aber um die verschiedenen Diskriminierungserfahrungen und Probleme nicht-heterosexueller Lebensformen weiß.

Ich danke Katrin Kabelitz für diesen Artikel.

Jochen Gust

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