
Den Pflegegrad 1 abschaffen? Bisher eine BILD-Meldung, die mehrere Medien aufgegriffen haben. In den kommenden Jahren fehlen Milliarden in der Pflegeversicherung. Woher soll das notwendige Geld kommen, wie kann eingespart werden?
Die Politik steht vor einer unangenehmen und undankbaren Aufgabe: die sozialen Sicherungssysteme müssen finanziell stabilisiert werden. Wie das gelingen kann – dafür gibt es unterschiedliche Vorstellungen und Szenarien.
Milliardendefizite – eine Bestandsaufnahme ist überfällig
Auch wenn es vielen Menschen nicht bewusst ist – über die Effizienz des Gesundheitssystems wird immer wieder diskutiert. Deutschland gibt sehr viel Geld aus, ohne dass die Ergebnisse unbedingt besser wären als in Ländern, die weniger Geld pro Kopf ausgeben.
Die Aufregung über die Meldung rund um die Abschaffung des Pflegegrades 1 war und ist groß. Mehr als 800.000 Menschen wären direkt betroffen, so die Befürchtung. Ob das so käme, wäre natürlich eine Frage von Übergangsfristen und auch der ganz praktischen Wirkung – wie viele Menschen würden wohl rechtzeitig eine Höherstufung beantragen und auch bekommen? Welche Folgekosten entstünden bei einer plötzlich wegfallenden Unterstützungsleistung? Tatsächlich ist es doch so: die Diskussion darum, ob es wirklich Aufgabe einer PFLEGEversicherung sein kann Putzhilfen in Privathaushalten zu bezahlen, gibt es schon lange. Inhaltlich zumindest – jetzt ist eine verschärfte finanzielle Dimension hinzu und an der Oberfläche angekommen. Die entscheidende Frage ist: was wollen wir mit Leistungen der Pflegeversicherung erreichen, welche Leistungen nutzen den Pflegebedürftigen am meisten – und wie erreichen und messen wir das?
Durch den klammen Haushalt hat die Diskussion politisch an Fahrt gewonnen – schon vor einiger Zeit. Nur wurde dies öffentlich kaum wahrgenommen und viele Politprofis scheuen das Thema zumindest öffentlich auch ein wenig, weil die Reaktionen vorhersehbar sind.
NRW-Gesundheitsminister: ehrliche Bestandsaufnahme nötig
Karl-Josef Laumann scheut die Diskussion offenbar nicht. In der Aufregung um die Meldungen zu einer Abschaffung des Pflegegrad 1 sagte er der Rheinischen Post: „“Wir wollen für die Menschen eine verlässliche Pflegeversicherung erhalten und sie zukunftsfest machen. Dazu gehört auch eine ehrliche Bestandsaufnahme nach acht Jahren seit Einführung der neuen Pflegegrade“. Und weiter wird er zitiert mit: „Der Pflegegrad 1 als „Präventionsgrad“ hat nicht dazu geführt, dass sich die Pflegebedürftigkeit weniger stark entwickelt. Eher wurde die Erwartung gestärkt, Pflege umfasse auch Leistungen, die nicht zur Kernaufgabe der Pflegeversicherung zählen.“.
Daraus ergaben sich meinerseits Fragen, die sich leider nicht direkt mit Herrn Minister Laumann klären liessen. Schriftlich teilte das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW mit:
Jochen Gust: Herr Laumann hat darauf hingewiesen, dass beim Pflegegrad 1 auch eine Erwartungshaltung entstanden sei, Leistungen außerhalb der Pflege abzudecken. Welche Leistungen sind damit konkret gemeint?
MAGS NRW: Pflegegrad 1 hat grundsätzlich die Zielsetzung, Selbstständigkeit zu erhalten und schwere Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, indem beispielsweise bereits frühzeitig mit Beratung und der Empfehlung von Rehabilitationsmaßnahmen angesetzt werden kann. Acht Jahre nach seiner Einführung ist daher die Frage zu stellen, ob seine derzeitige Ausgestaltung diese Erwartungen wirklich erfüllt hat, oder ob er noch einmal gerade mit Blick auf dieses Ziel neu auszurichten ist. Führen die aktuellen Leistungen gerade im Pflegegrad 1 wirklich dazu, dass Pflegebedürftigkeit vielleicht sogar auch wieder überwunden oder zumindest gemindert werden kann? Im Gesamtkontext einer großen Pflegereform sind genau diese Fragen und damit auch bestehende Strukturen auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls noch einmal anzupassen.
Jochen Gust: Neben einer möglichen Streichung des Pflegegrad 1 ist von weiteren Einsparungen die Rede. Welche anderen Sparmaßnahmen stehen aktuell im Raum?
MAGS NRW: Die Reformdiskussionen auf eine reine Diskussion von Sparmaßnahmen zu reduzieren, wird der Arbeit der von der Bundesregierung eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform der Pflegeversicherung nicht gerecht. Vielmehr geht es darum, die Pflegeversicherung zukunftsfest zu machen. Dabei ist die Finanzierung zwar ein Teil, aber nicht der ausschließliche. Vielmehr ist auf das Gesamtsystem zu blicken und zu fragen, ob es den Zielen, die man sich mit der Pflegeversicherung gesetzt hat, auch im Wortlaut des Gesetzes, gerecht wird oder ob und an welchen Stellen Anpassungen notwendig sind.
Jochen Gust: Als Sozial- und Gesundheitspolitiker setzt sich Herr Laumann dafür ein, eine angemessene Versorgung Pflegebedürftiger sicherzustellen. Wie bewertet er die aktuelle und künftige Entwicklung hinsichtlich der Finanzierung der Pflegeversicherung, wenn Reformen jetzt ausbleiben, weil sich dies politisch nicht durchsetzen lässt im erforderlichen Umfang? Wird der Bund nicht ohnehin Defizite ausgleichen (müssen) – auch ohne Reformen?
MAGS NRW: Ziel der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist es, zum Ende des Jahres konsensfähige Vorschläge, auch zur künftigen Finanzierung der Pflegeversicherung, zu unterbreiten.
(Antworten v. Referat Presse; 02.10.2025, schriftl. Anfrage).
Mehr Präventionsleistungen sind wünschenswert und sinnvoll
Wenn wirklich Prävention das Ziel ist, wird das ohne pflegefachliche Begleitung und Expertise nicht gehen. Zeit, das Thema Community Health Nursing nochmal anzusprechen? Wünschenswert wäre aus meiner Sicht (nicht nur) im Bereich der Versorgung und Unterstützung von Menschen mit Demenz, wenn mehr Alltagsbetreuung und mehr pflegefachliche Begleitung ermöglicht würde. Ich kann die Kritik und die Sorgen um den Pflegegrad 1 natürlich nachvollziehen und teile sie auch, wenn Worte wie „Abschaffung“ fallen.
Momentan sehe ich eine komplette, sprich „ersatzlose“, Streichung des Pflegegrades 1 als kaum realistisches Szenario an. Kluge Politik stärkt Prävention. Prävention stärkt man nicht, in dem man Menschen mit Unterstützungsbedarf einfach etwas streicht. Ich erwarte also eher Veränderungen, denn eine komplette Streichung. Möglicherweise auch eine Verlagerung von Leistungen in den andere Töpfe / Aufgabenbereiche. Auch das wäre eine denkbare „Strategie“, um Kosten bei der Pflegeversicherung einzusparen.
Solange es keine konkret nachlesbaren Planungen, keine Gesetzentwurf gibt, bleibt es bei Spekulationen. Ich halte es im Sinne aller Versicherten für geboten, dass diese baldmöglichst beendet werden können. Dafür muss die Politik etwas Konkretes vorlegen. Alles andere hält Menschen in Unsicherheit. Das können gerade Betroffene und deren Angehörige überhaupt nicht gebrauchen, zusätzlich zu all den ohnehin bestehenden Belastungen.
In diesem Sinne, Frau Gesundheitsministerin Warken und Herr Minister Laumann: bitte werden sie konkret – möglichst bald.
Jochen Gust