Demenz im Hospiz: Beruhigungsmittel können das Sterberisiko erhöhen

Ein Hospiz soll am Lebensende vor allem eines bringen: Ruhe, Linderung und Würde erhalten – auch für Menschen mit Demenz. Um Unruhe, Angst oder Delir zu dämpfen, wird auch in Hospizen bzw. der Palliativversorgung auch zu Benzodiazepinen und Antipsychotika gegriffen. Eine aktuelle US-Studie legt jetzt nahe: Genau diese Medikamente können das Sterberisiko im Hospiz für Menschen mit Demenz deutlich erhöhen.

Neuverordnungen im Hospiz

Das Forschungsteam um Lauren Gerlach von der University of Michigan hat die Daten von über 139.000 Bewohnerinnen und Bewohnern US-amerikanischer Pflegeheime ausgewertet, die zwischen 2014 und 2018 neu in ein Hospiz aufgenommen wurden. Alle hatten eine Alzheimer-Demenz oder eine verwandte Form und in den sechs Monaten vor der Hospizaufnahme weder Benzodiazepine noch Antipsychotika erhalten.
Im Fokus der Forscher stand die Frage: Was passiert, wenn diese Medikamente erst nach Beginn der Hospizversorgung neu angesetzt werden? Sie verglichen mit Menschen mit Demenz im Hospiz, die diese Mittel nicht bekamen. Die Forschenden verfolgten den Verlauf über 180 Tage nach Hospizaufnahme.

Wichitge Erkenntnisse

Die Auswertung zeigt mehrere Befunde, die aufhorchen lassen. Knapp die Hälfte der Menschen mit Demenz (48 Prozent) erhielt nach Aufnahme ins Hospiz erstmals ein Benzodiazepin, 13 Prozent bekamen neu ein Antipsychotikum verordnet. Die meisten dieser Verordnungen erfolgten bereits in den ersten Tagen nach Hospizaufnahme. Gleichzeitig lag die durchschnittliche Hospizdauer bei über 130 Tagen – viele Patientinnen und Patienten befanden sich also nicht in den letzten Tagen oder Wochen ihres Lebens. Beim Blick auf die Sterblichkeit über sechs Monate zeigte sich: Wer im Hospiz neu ein Benzodiazepin erhielt, hatte ein um 41 Prozent erhöhtes Risiko, innerhalb von 180 Tagen zu sterben, verglichen mit sehr ähnlichen Personen ohne Benzodiazepin. Bei neu angesetzten Antipsychotika lag das erhöhte Sterberisiko immer noch bei 16 Prozent.

Was sind Benzodiazepine und Antipsychotika?

Benzodiazepine sind Medikamente zur Beruhigung und Angstlösung, zum Beispiel Lorazepam (Ativan) oder Diazepam (Valium).

Antipsychotika wie Haloperidol (Haldol) oder Olanzapin (Zyprexa) werden häufig bei starker Unruhe, Halluzinationen oder aggressivem Verhalten eingesetzt.

Mögliche Erklärungen – und Grenzen der Studie

Die Daten beantworten nicht alle Fragen, sie zeigen zunächst „nur“, dass Neuverordnungen dieser Medikamente mit einer höheren Sterblichkeit einhergehen. Dafür kommen mehrere Erklärungen infrage. Zum einen könnte ein Indikations-Bias vorliegen: Menschen, die besonders schwer krank, stark unruhig oder insgesamt stärker belastet sind, erhalten eher Benzodiazepine oder Antipsychotika – sie hätten möglicherweise auch ohne diese Medikamente ein höheres Sterberisiko. Zum anderen spielen die bekannten Risiken der Substanzen selbst eine Rolle: Sedierung, Stürze, Aspirationspneumonien oder Herz-Kreislauf-Effekte könnten tatsächlich zur erhöhten Sterblichkeit beitragen. Hinzu kommt, dass Versorgungsmuster sehr unterschiedlich sind. In einigen Hospizen scheinen Benzodiazepine und Antipsychotika eher „Standard“ im Rahmen eingespielter Routinen zu sein, während andere Einrichtungen diese Mittel deutlich zurückhaltender und stärker individuell abgewogen einsetzen.

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Auch wenn die Studie im US-System mit Medicare-Daten durchgeführt wurde, ist die Botschaft für die Versorgung von Menschen mit Demenz allgemein relevant:

  • Benzodiazepine und Antipsychotika sind in der Versorgung von Menschen mit Demenz Hochrisiko-Medikamente.
  • Risiken und Nutzen müssen stets besonders sorgfältig abgewogen werden, insbesondere wenn ein Versterben nicht in Kürze zu erwarten ist.
  • Nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten immer zuerst ausgeschöpft werden: Schmerzbehandlung, Nähe und Begleitung, Anpassung der Umgebung, Deeskalation, klare Tagesstruktur, Musik, vertraute Rituale usw., gut geschulte Pflegefachpersonen sind hier entscheidend.
  • Wenn Medikamente nötig sind, sollten Dosis und Dauer so gering wie möglich gehalten und engmaschig überprüft werden.

Die neue Studie von Gerlach und Kolleg:innen macht deutlich: Häufig eingesetzte Medikamente wie Benzodiazepine und Antipsychotika können bei Menschen mit Demenz im Hospiz mit einem deutlich erhöhten Sterberisiko verbunden sein. Das zwingt nicht zum kategorischen Verzicht – aber zu einer sehr bewussten, gut begründeten und regelmäßig überprüften Verordnung.

Quelle:
Gerlach LB, Zhang L, Kim HM, Teno J, Maust DT. Benzodiazepine or Antipsychotic Use and Mortality Risk Among Patients With Dementia in Hospice Care. JAMA Network Open. 2025;8(10):e2537551. doi:10.1001/jamanetworkopen.2025.37551

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Jochen Gust

Pflegefachperson, Projektmitarbeiter, Demenzbeauftrager im Krankenhaus, Autor, Moderator, Dozent

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