Das Verhalten eines anderen Menschen zu deuten, ist schwer genug. Das Verhalten von Menschen mit Demenz zu interpretieren, kann eine noch größere Herausforderung sein. Fehlinterpretationen sind dabei nicht nur ärgerlich – sie können gravierende Folgen haben, zum Beispiel wenn Infektionen, Schmerzen oder Schwindel dahinterstecken und unbehandelt bleiben.
Empathie allein reicht nicht aus
Stellen Sie sich vor, Sie müssen sich einer größeren Operation unterziehen. Sie haben zwei Empfehlungen:
• Krankenhaus A: Alle sind „supernett“, die Atmosphäre ist warm und menschlich.
• Krankenhaus B: Dort arbeiten ausgewiesene Expertinnen und Experten, die sehr viele Eingriffe genau dieser Art durchführen – mit hervorragenden Ergebnissen.
Wo würden Sie sich operieren lassen?
Ideal ist natürlich die Kombination: fachliche Exzellenz und ein gutes, zugewandtes Miteinander. In der Versorgung von Menschen mit Demenz gilt genau das Gleiche: Verständnis, Geduld und eine freundliche Haltung sind unverzichtbar. Aber sie dürfen professionelle pflegerische Wachsamkeit nicht ersetzen. Sonst wird es gefährlich – wie im Fall von Herrn M.
Herr M.: „Aggressiv und sexuell übergriffig“?
Herr M. hat eine weit fortgeschrittene Demenz. Verbale Kommunikation gelingt kaum noch. Er wirkt stark untergewichtig, ausgezehrt. Für einige Zeit kommt er nach einem Krankenhausaufenthalt zur Kurzzeitpflege in ein Pflegeheim. Schon in den ersten Tagen zeigt sich ein auffälliges Muster:
Jede Mobilisation wird zur Kraftprobe. Beim Setzen auf die Bettkante, beim Transfer in den Rollstuhl oder in den Pflegesessel hält sich Herr M. mit großer Kraft an allem fest, was er greifen kann: Bettgitter, Matratze, Nachttisch, Kleidung der Pflegenden. Es kommt zu Griffspuren und Blutergüssen. Das Team versucht zunächst alles: ruhiges Zureden, kurze Erklärungen, längere Gespräche, „Aromatherapie“ mit Lavendel um eine beruhigende Atmosphäre zu schaffen. Doch der Erfolg bleibt aus. Stück für Stück geht den Mitarbeitenden die Geduld aus.
Der Eklat
Warum Menschen mit Demenz anfälliger für Schwindel sind – kurz erklärt
- Schäden im „Vestibular-Netzwerk“ des Gehirns: Die Gleichgewichtsinformation aus dem Innenohr wird in Hirnstamm, Kleinhirn, Thalamus, Inselrinde und parietalen Arealen verarbeitet. Bei Demenz sind Teile dieses Netzwerks (z. B. temporo-parietale Regionen) oft mitbetroffen – die Integration von Gleichgewichts-, Seh- und Tiefensensibilität wird unsicher.
- Hippocampus und räumliche Orientierung: Der Hippocampus ist wichtig für Orientierung, Raumgefühl und Navigation. In vielen Demenzformen (vor allem Alzheimer) schrumpft er deutlich. Studien zeigen: vestibuläre Störungen gehen mit Hippocampus-Atrophie und kognitiven Einbußen einher. Das Gehirn kann Position und Bewegung im Raum schlechter einschätzen – Betroffene fühlen sich schneller „schwankend“ oder verloren.
- Weiße Substanz und Kleingefäßerkrankung: Bei älteren Menschen mit Demenz finden sich häufig Mikroinfarkte und Veränderungen der weißen Substanz. Diese stören die Leitungsbahnen zwischen Motorik-, Gleichgewichts- und Planungsarealen. Folge: Gang- und Standunsicherheit, „Schwankschwindel“, unerklärte Stürze – auch ohne klaren Drehschwindel.
- Autonome Dysregulation: Besonders bei Lewy-Körper- und Parkinson-Demenz ist das vegetative Nervensystem betroffen. Blutdruck und Herzschlag passen sich langsamer an Lagewechsel an. Orthostatische Hypotonie („Blutdruck sackt beim Aufstehen ab“) führt zu Schwarzwerden vor Augen, Benommenheit und Schwindel – oft ohne dass die Betroffenen das benennen können.
- Überlastete Sinnesintegration: Das Gehirn muss ständig Sehen, Gleichgewichtssinn und Körperwahrnehmung abgleichen. Bei Demenz gelingt dieser Abgleich schlechter, vor allem in unruhigen, optisch „vollen“ Umgebungen. Widersprüchliche Signale (z. B. viel Bewegung im Blickfeld, aber stillstehender Körper) werden schneller als Schwindel oder Unsicherheit erlebt.
- Verstärkende Faktoren: Hinzu kommen typische „Begleiter“ des Alters: Hör- und Sehverlust, Polyneuropathie, Medikamente mit Schwindel- und Sturzrisiko. Bei Demenz wirken diese Faktoren stärker, weil Kompensation und Rückmeldung („mir ist schwindlig“) eingeschränkt sind.
Beispielhafte Studien: Agrawal Y et al. Vestibular impairment and cognitive decline in older adults (2019); Lim SJ et al. Vestibular loss increases risk of dementia (Sci Rep 2023); Aedo-Sanchez C et al. Vestibular dysfunction and its association with cognitive impairment (Front Neurosci 2024).
Eines Tages soll Herr M. wieder von zwei Pflegenden vom Bett in den Pflegesessel mobilisiert werden. Das bekannte Bild: Er klammert sich an Matratze und Bettgestell, „wehrt sich“, wie das Team es nennt. Schließlich gelingt es, ihn auf die Füße zu stellen. Beim Drehen und Hinsetzen greift Herr M. erneut wild um sich. In diesem Moment trifft er eine Kollegin an der Brust.
Für das ohnehin bereits genervte Team ist die Situation eindeutig: das geht so nicht mehr.
Von „sexuellem Übergriff“, „Sexualstraftat“ und „Gewalttäter“ ist die Rede. Die Tochter wird etwa eine Stunde später telefonisch informiert – emotional, wütend, mit klarer Ankündigung: Der Kurzzeitpflegeplatz sei vermutlich verloren, eine Einweisung in die Psychiatrie dringend erforderlich. Die Tochter ist völlig fassungslos. Tränenreich entschuldigt sie sich für ihren Vater, beschreibt ihn als früher liebevollen, respektvollen Menschen und ist völlig ratlos, ob sie einer Einweisung in eine Psychiatrie zustimmen soll.
Die erste Begegnung
Auf Station erlebe ich Herrn M. zum ersten Mal. Ich habe zu diesem Zeitpunkt bereits viele Spekulationen aus dem Team gehört: mögliche traumatische Erlebnisse, „ungelebte Sexualität“, frühere Gewalt – vieles, was das Verhalten erklären soll. Belegt davon ist wie so oft nichts.
Herr M. liegt im Halbdunkel im Bett, mit einer Tagesdecke zugedeckt, die Augen geschlossen. Die Arme sind ausgestreckt, die Hände liegen am oberen Rand der Oberschenkel. Erst auf den zweiten Blick wird klar: Sie „liegen“ dort nicht zufällig, sondern üben Druck aus – er hält sich offenbar an sich selbst fest. Ich spreche ihn an. Keine Reaktion. Erst als ich deutlich lauter werde, bewegt sich sein Kopf suchend, die Augen öffnen sich kurz, scheinen aber nichts zu fixieren. Er findet mich nicht – und schließt sie wieder.
Ich setze mich neben ihn auf die Bettkante und lege eine Hand auf seinen Unterarm. Er öffnet die Augen, greift schnell nach meiner Hand und hält sie fest. Es ist Kraft dahinter, aber er versucht nicht, meine Hand wegzuschieben oder zu stoßen. Das fällt mir sofort auf. Es fühlt sich eher an, als „lauert“ er. Er wartet ab, was ich als nächstes tun werde und gleichzeitig ist sein großer Krafteinsatz auch irgendwie eine Botschaft der Warnung.
Herr M. wirkt auf mich „fertig“, erschöpft, fahrig, sieht fahl aus. Ich schiebe es spontan fälschlicherweise auf das Untergewicht und die stressigen Tage.
Schwindel-Verdacht bei Demenz – mögliche Anzeichen
Besonders wichtig, wenn die Person stark kognitiv eingeschränkt ist und sich kaum oder gar nicht mehr verbal äußern kann:
- Augen: Nystagmus („Augenpendeln“), Augen werden bei Bewegung fest geschlossen, starrer oder suchender Blick.
- Reaktion auf Lagewechsel: starke Unruhe beim Drehen, Aufsetzen, Umsetzen; festes Festklammern an Bettgitter, Matratze, Kleidung, Hand; Abwehr bestimmter Bewegungen.
- Vegetative Zeichen: Übelkeit, häufiges Schlucken, Lippenlecken, Würgereiz; Erbrechen ohne andere deutliche Ursache; Blässe, kalter Schweiß.
- Haltung von Kopf und Körper: auffällige Kopfhaltung; Zusammenzucken oder Angst bei kleinen Kopfbewegungen; sichtbares „Sichern“ mit Füßen/Händen.
Merksatz: Treten mehrere dieser Zeichen wiederholt in Zusammenhang mit Lagewechsel oder Kopfbewegung auf, Schwindel ernst nehmen und ärztlich abklären. Bei neuen Lähmungen, Sprachstörung, Doppelbildern oder starken Kopfschmerzen: Notfall – Rettungsdienst rufen.
Die „Abwehr“ unter der Lupe
Nachdem die anwesende Kollegin den Raum verlassen hat, entscheide ich mich, seinen „Problemmoment“ ganz bewusst zu erleben: die Mobilisation. Schon beim Beginn des Lagewechsels kommt es zu dem bekannten Bild: unartikuliertes Schimpfen, Drücken, Zupacken, Abwehr. Doch es fällt schnell etwas auf:
Je näher wir der aufrechten Position kommen, desto mehr verwandelt sich die Gegenwehr in ein panisches Festhalten und Um-sich-Greifen. Im Sitzen verstärkt sich das: Herr M. leckt sich wiederholt über die Lippen, wirkt hoch angespannt, die Hände suchen Halt, der Blick ist unstet, die Augen werden immer wieder krampfhaft geschlossen. Das Bild erinnert eher an massive Unsicherheit und Angst, als an gezielte Aggression oder gar einen „sexuellen Übergriff“.
In der anschließenden Fallbesprechung setzen wir im Pflegeteam die Beobachtungen systematisch zusammen:
- starke Unruhe und „Abwehr“ vor allem bei Lagewechseln
- sobald der Körper bewegt oder aufgerichtet wird, wandelt sich die „Abwehr“ vollständig in ein Greifen, Festklammern: Halt-suchen.
- suchende Augen, häufiges Augen schließen – direkt dann, wenn Bewegung beginnt so die Mehrheitsmeinung im Team, auffälliges Lippenlecken wurde auch zuvor bereits dokumentiert und Mundtrockenheit vermutet.
- In liegender, halbliegender und sogar sitzender Position versiegt die Abwehr nach und nach völlig.
- Herr M. wirkt in keiner Position jemals richtig entspannt, es sei denn er schläft.
- Hinzu kommen Anamnesepunkte, die bislang kaum beachtet wurden: Gefäßerkrankungen, und mehrere Stürze in der Vorgeschichte.
Die weitere Abklärung ergibt: Herr M. leidet unter ausgeprägtem Schwindel, ausgelöst durch eine Kombination aus Kreislaufproblemen und vestibulärer Störung. Es handelt sich also nicht um „grundlose Aggression“ und auch nicht um zielgerichtet sexualisiertes Verhalten, sondern um ein massives, körperlich begründetes Unsicherheits- und Fallgefühl – das er nur noch über Bewegung und Zupacken ausdrücken kann bzw. zu verhindern oder abzuschwächen sucht.
In der Einrichtung zuvor war das nicht erkannt worden. Man hat mit großem gutem Willen versucht, empathisch, freundlich und beruhigend auf das vermeintlich „abwehrende Verhalten“ zu reagieren. Es gab viele Deutungen über mögliche Traumata oder psychische Belastungen, aber kaum eine gezielte körperliche Spurensuche.
Was wir aus diesem Fall lernen können
Potenziell problematische Medikamente bei Demenz und Schwindel
Vorsicht ist besonders geboten bei folgenden Wirkstoffgruppen (immer ärztlich prüfen lassen – keine Eigenänderung der Medikation):
- Blutdrucksenker und andere kardiovaskuläre Medikamente: (z. B. Antihypertensiva, einige Antiarrhythmika) – können Schwindel, orthostatische Hypotonie und Stürze begünstigen.
- Diuretika: (entwässernde Medikamente) – Risiko für Volumenmangel, Blutdruckabfall und Kreislauf-Schwindel.
- Psychopharmaka: (Antipsychotika, sedierende Antidepressiva, Benzodiazepine, Z-Schlafmittel) – sedierend, teils anticholinerg, mit erhöhtem Risiko für Schwindel, Gangunsicherheit und Stürze.
- Antiepileptika: – häufig mit Nebenwirkungen wie Benommenheit, Ataxie und Schwindel verbunden.
- Opioid-Analgetika: – können zu Sedierung, Blutdruckabfall, Benommenheit und Schwindel führen.
- Stark anticholinerge Medikamente: (z. B. einige Blasenmedikamente, ältere H1-Antihistaminika, bestimmte Antidepressiva/Neuroleptika) – verschlechtern Kognition, Sehen, Kreislaufregulation und erhöhen damit indirekt Schwindel- und Sturzrisiko.
- Demenzmedikamente aus der Gruppe der Cholinesterasehemmer: (Donepezil, Rivastigmin, Galantamin) – können bei einem Teil der Betroffenen Schwindel, Bradykardie und Synkopen auslösen.
In der Pflegepraxis wichtig: Schwindelzeichen (z. B. Festklammern, Übelkeit, Blässe, Nystagmus, Unsicherheit beim Aufrichten) immer im Zusammenhang mit der aktuellen Medikation denken und strukturiert an Ärztin/Hausarzt zurückmelden – niemals Medikamente eigenständig weglassen oder dosieren.
Beispielhafte Quelle: Seppala LJ et al. „Fall-risk-increasing drugs and falls in older adults: a systematic review and meta-analysis.“ Age Ageing. 2018.
Der Fall von Herrn M. zeigt deutlich, wie schnell Verhalten von Menschen mit Demenz fehlinterpretiert werden kann – und wie wichtig es ist, körperliche Ursachen konsequent mitzudenken. Einige Kerngedanken für den Alltag:
1. Verhalten zuerst als Signal verstehen
Bevor wir Verhalten als „aggressiv“, „übergriffig“ oder „unkooperativ“ etikettieren, lohnt sich die genaue Beobachtung und eine Fallbesprechung. Wogegen richtet sich die Reaktion eigentlich? Wie sieht sie konkret aus und in welchen Situationen tritt sie auf und in welchen Situationen nicht?
2. Situationen genau betrachten
Treten Abwehr und „Greifen“ vor allem dann auf, wenn Kopf und Oberkörper bewegt oder aufgerichtet werden? Wenn ja, gehört Schwindel auf die Liste der Verdachtsmomente – neben Schmerzen, Luftnot, Angst oder orthostatischen Problemen.
3. Beobachten statt nur einordnen
Eine kurze, präzise Beobachtung („beim Aufsetzen klammert sich Herr M. fest, schließt die Augen, wirkt blass, Lippenlecken, hört auf, wenn er wieder liegt“) hilft Ärztinnen und Ärzten viel mehr als die pauschale Einschätzung „aggressiv“ oder „übergriffig“.
Empathie ist unverzichtbar. Aber sie ersetzt keine klinische Aufmerksamkeit. Menschen mit Demenz brauchen beides: freundliche, zugewandte Begleitung und ein Team, das körperliche Symptome erkennt, ernst nimmt und zur Sprache bringt. Das zeigt auch, warum die Versorgung von Menschen mit Demenz Fachpersonen braucht. Herr M. lebt in der Zwischenzeit wieder Zuhause und wird von der Tochter mit Unterstützung eines Pflegedienstes und eines Betreuungsdienstes versorgt. Eine Einweisung in die Psychiatrie hat nie stattgefunden.


