Hinlauftendenz bei Demenz: Was lässt bleiben?

Zeitdruck, Personalmangel und durchstrukturierte Abläufe bestimmen den Alltag in der Pflege. Für intensive Zuwendung und Beziehungsgestaltung bleibt oft wenig Raum – dabei hat genau das einen direkten Einfluss auf das Verhalten von Menschen mit Demenz. Besonders bei Hinlauftendenzen zeigt die Erfahrung: wo Sicherheit, Nähe und Orientierung fehlen, steigt das Risiko, dass Betroffene weglaufen.

Menschen mit Demenz verlassen manchmal ohne Vorwarnung ihre gewohnte Umgebung. Für Pflegekräfte bedeutet das höchste Alarmstufe – für Betroffene kann es lebensgefährlich werden. Vermehrt stehen technische im Vordergrund: Alarmsysteme, getarnte Türen, GPS-Ortung. Doch so wichtig diese Maßnahmen sind – sie reichen allein nicht aus. Entscheidend ist, die Ursachen zu verstehen und individuell zu reagieren.

Wie groß ist das Problem?

Exakte Zahlen gibt es nicht, da die Polizei bei Vermisstenmeldungen keine Diagnosen erfasst. Fachleute gehen aber davon aus, dass ein relevanter Anteil der täglich rund 200–300 Vermisstenmeldungen in Deutschland Menschen mit Demenz betrifft. Immer wieder enden diese Fälle tragisch.

Internationale Daten zeigen, dass 20 % der zu Hause lebenden und bis zu 60 % der institutionell versorgten Menschen mit Demenz Wander- oder Weglaufverhalten zeigen (Practical Neurology, 2022). Eine aktuelle Studie aus Indien verdeutlicht zudem, wie sehr Hinlauftendenz das Umfeld belastet: Sie tritt häufiger auf, je weiter die Demenz fortgeschritten ist, und stellt auch für pflegende Angehörige einen erheblichen Stressfaktor dar.

Technische Maßnahmen und Bedarfsmedikation: Hilfreich, aber nicht ausreichend

Pflegeeinrichtungen und Angehörige setzen häufig auf technische oder bauliche Lösungen, um das Risiko zu reduzieren. Studien zeigen, dass technische Hilfsmittel zwar Sicherheit geben können, aber kein Ersatz für pflegerische Nähe und professionelle Beziehungsgestaltung sind. Eine Wiener Untersuchung zu assistiven Technologien betont: GPS-Tracker und Sensoren können sinnvoll sein, doch ohne Beziehungsgestaltung und Aktivierung bleibt ihr Nutzen begrenzt – und es bestehen Datenschutz- und Ethikfragen.

Bedarfsmedikation: Kritisch zu bewerten

In der Praxis wird Hinlauftendenz nicht selten mit Bedarfsmedikation begegnet – etwa durch sedierende Neuroleptika oder Beruhigungsmittel. Sie verhindern kurzfristig, dass Betroffene loslaufen. Doch fachlich ist dieser Ansatz problematisch:

  • Das Motiv bleibt meist bestehen: Der Wunsch „nach Hause zu gehen“ oder jemanden zu suchen, verschwindet nicht einfach oder kehrt wieder.
  • Gefühl des Eingesperrtseins: Der Drang bleibt, nur die Bewegungsfähigkeit ist gehemmt.
  • Risiken und Nebenwirkungen: Stürze, Kreislaufprobleme, Delir, erhöhte Sterblichkeit.
  • Fachlicher Konsens: Bedarfsmedikation nur als ultima ratio bei akuter Gefährdung.

Pflegefachpersonen sollten sich bewusst machen: Medikamente ersetzen keine Beziehungsgestaltung.

Alarmplan Hinlauftendenz

Wenn ein Mensch mit Demenz plötzlich fehlt, ist die Situation hoch belastend. Ohne klare Vorgaben drohen hektische Reaktionen, Unsicherheit und Fehler. Deshalb braucht jedes Team einen Alarmplan Hinlauftendenz.

5 Fragen, die Ihr Alarmplan beantworten muss

  1. Kommunikation: Wer ist sofort zu informieren (Pflegeleitung, Angehörige, Polizei)?
  2. Suche: Welche Bereiche sollen abgesucht werden – Wohnung/Garten, Station, Außengelände?
  3. Versicherung: Sind Mitarbeitende bei eigener Suche abgesichert?
  4. Externe Einbindung: Wer darf datenschutzkonform informiert werden?
  5. Nachbereitung: Wie wird das Ereignis reflektiert und Prävention verbessert?

Beziehungsgestaltung – unterschätzte Prävention

Obwohl der DNQP-Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ die Bedeutung von Wertschätzung und Personenzentrierung hervorhebt, liegt der Fokus im Alltag zu vieler Einrichtungen und vor allem Kliniken nach wie vor ausschließlich auf medizinischen und organisatorischen Abläufen.

Drei Gründe, warum Beziehungsgestaltung oft zu kurz kommt:

  • Fokus auf das Messbare (Medikamente, Körperpflege)
  • Zeit- und Personalmangel
  • Unsichtbare Wirkung (Ergebnisse oft erst langfristig sichtbar)

Studien zeigen:

  • Cohen-Mansfield et al. (2015) belegten, dass Bewohner:innen weniger Unruhe und Fluchtverhalten zeigen, wenn sie sich emotional sicher fühlen.
  • Tom Kitwood (1997) zeigte, dass respektvolle Beziehungen Verhalten, Kognition und emotionale Stabilität positiv beeinflussen.
  • Agrawal et al. (2021) betonen in einer Übersichtsarbeit, dass nur ein Mix aus Aktivierung, Umweltgestaltung, Begleitung und Technik wirksam ist.
  • Neubauer, Wagner & Hundge (2018) untersuchten in einem Scoping Review High-Tech- und Low-Tech-Strategien gegen Hinlauftendenz. Sie kartierten, welche Maßnahmen in verschiedenen Settings eingesetzt werden, wo bereits Erfahrungen bestehen und wo Forschungslücken bleiben. Dabei zeigte sich: Viele Ansätze sind nur unzureichend evaluiert, und ethische Fragestellungen werden bisher kaum berücksichtigt.

Internationale Perspektive

International wird Hinlauftendenz ähnlich wie in Deutschland behandelt: Vorrang haben nicht-pharmakologische Maßnahmen. Es gibt keine Patentlösung. Systematische Reviews und internationale Alzheimer-Guidelines betonen, dass immer ein Mix aus Sicherheit, Beziehung, Aktivierung und Technik erforderlich ist (Agrawal et al., 2021).

Professionelle Beziehungsgestaltung als Schlüssel: Die richtige Frage stellen

Technische und organisatorische Maßnahmen sind wichtig – doch sie reichen nicht aus. Entscheidend ist bezogen auf die Betroffenen weniger „Wie hindere ich ihn daran, wegzulaufen?“ als vielmehr: „Was lässt ihn bleiben?“.

Hinlauftendenz ist mehr als ein Sicherheitsrisiko – sie ist ein Signal unerfüllter Bedürfnisse. Technik und Bedarfsmedikation können im Notfall helfen, aber entscheidend ist mindestens in der ängerfristigen Versorgung die pflegerische Beziehung. Dort, wo Menschen sich verstanden, sicher und angenommen fühlen, sinkt das Risiko.

Literatur

  1. Agrawal, N., Tripathi, A., & Kumar, S. (2021). Approach to Management of Wandering in Dementia. Indian Journal of Psychiatry, 63(Suppl 3), S464–S471.
    DOI: 10.4103/psychiatry.IndianJPsychiatry_782_20 Volltext (PubMed Central)
  2. Anu, M., Padmaja, G., & Ramesh, M. (2024). Association between severity of dementia, wandering behavior, and caregiver burden. Journal of Geriatric Mental Health, 11(1), 20–26.
    Volltext (JGMH)
  3. Cohen-Mansfield, J., Marx, M. S., Dakheel-Ali, M., & Thein, K. (2015). The impact of meaningful activities on agitation in persons with dementia residing in assisted living. The American Journal of Geriatric Psychiatry, 23(6), 600–610.
    DOI: 10.1016/j.jagp.2014.07.002
  4. Kitwood, T. (1997). Dementia Reconsidered: The Person Comes First. Open University Press.
  5. Neubauer, N. A., Wagner, M., & Hundge, D. (2018). What do we know about strategies to manage dementia-related wandering? A scoping review. American Journal of Alzheimer’s Disease & Other Dementias, 33(8), 451–463.
    PubMed-Link
  6. Practical Neurology. (2022). Wandering and Sundowning in Dementia. Practical Neurology, 21(2), 112–118.
    Volltext (Practical Neurology)
  7. Universität Wien. (2021). Menschen mit Demenz und (assistive) Technologie – Perspektive der Betroffenen und ihrer informellen und formellen Betreuungs- und Pflegepersonen. Pflegewissenschaftliche Fakultät, Wien.
    PDF-Download (Universität Wien)

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Jochen Gust

Pflegefachperson, Projektmitarbeiter, Demenzbeauftrager im Krankenhaus, Autor, Moderator, Dozent

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